Vergissmeinnicht – oder die Frage, wie man sich erinnern kann.

Saskia Ketz
Darf man Verstorbene abbilden? Und kann Fotografie als Medium der Erinnerung an die Toten dienen? Saskia Ketz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Dortmund und forscht bzw. lehrt zur Sichtbarkeit des Todes in Kunst und Design und einer visuellen Erinnerungskultur.

Um sich der Antwort auf die Frage nach der Darstellbarkeit des Todes nähern zu können, muss erst einmal differenziert werden, von welchen Körpern wir sprechen und auf welche Tode wir uns beziehen. Tote sind nicht gleich Tote. 

Das Begaffen und Aufzeichnen eines Verkehrsunfalls mit Todesfolge wird anders wahrgenommen und bewertet als das Foto eines Kriegsschauplatzes oder das Bild eines Greises im Sarg. Diese verschiedenen Szenarien erzeugen bei uns unterschiedliche Emotionen und würden voneinander abweichende Resultate erzielen. Um sich einem Teilbereich intensiv nähern zu können, liegt der Fokus in diesem Beitrag auf der Darstellung des natürlichen Todes bzw. auf den durch Krankheit hervorgerufenen Tod, welcher zum Bildmotiv avanciert.

Die Anfänge der Postmortem-Fotografie

Wir leben in einer Zeit, in der wir täglich Fotos bzw. Bilder im weitesten Sinne konsumieren, produzieren und verbreiten. Werbung beispielsweise wird ausschließlich oder weitestgehend visuell gestaltet. Mit unserem Smartphone dokumentieren wir unseren Alltag und besondere Ereignisse bzw. Erlebnisse und posten die Fotos in sozialen Netzwerken. Kurz: Fotografien sind allgegenwärtig und  prägen unsere Lebenswelt. Dies war jedoch nicht immer so: In den Anfängen der Fotografie, also in der Zeit ab 1839, war der Akt des Fotografierens etwas Besonderes und mit großem Aufwand verbunden. Die Belichtungszeiten des Bildes betrugen einige Minuten und Apparate waren teuer, sodass es dem neuen Beruf des Fotografen vorbehalten war, zu portraitieren und bildliche Erinnerungen festzuhalten. 

Zu dieser Zeit entwickelte sich auch das Phänomen der Postmortem-Fotografie, in der Verstorbene auf Wunsch ihrer Angehörigen in Fotostudios transportiert wurden, um dort schlafend oder (für uns befremdlich) verlebendigt fotografiert werden zu können.  

Nach einem Verbot in den 1870er Jahren, das sich auf den Transport von Leichen und damit einhergehenden hygienischen Überlegungen bezog, verlagerte sich die Postmortem-Fotografie von einer wirtschaftlichen Einnahmequelle für Fotografen in den privaten Raum. Das Bild des Verstorbenen erweckte zur der Zeit jedoch keine ethischen oder ästhetischen Bedenken, denn es war, begründet durch das sehr junge Medium, oft das einzige Foto, das es von der Person gab.

Die Einstellung zum Tod im Wandel der Zeit

Darüberhinaus war der Umgang mit dem Tod im 19. Jahrhundert ein ganz anderer: Durch schlechte hygienische Bedingungen, Epidemien und eine hohe Kindersterblichkeit war die Lebensdauer der Menschen geringer und der Tod Teil des Lebens bzw. regelmäßiger Begleiter. Sterbe- und Trauerprozesse waren zudem eingebettet in (religiöse) Rituale und ein Handlungskatalog half Familien-, Gemeindemitgliedern und Nachbarn den Tod zu verarbeiten. Mit dem Verlust vom christlichen Zusammenhalt und der Einbindung in Kirche bzw. Gemeinde nahm auch der Umgang mit den toten Körpern ab. Nicht mehr der Pfarrer wird im Falle eines Todes gerufen, sondern der Bestatter. Parallel dazu entwickelten sich medizinische Erkenntnisse immer weiter, die Lebenserwartung der Menschen wuchs und wächst, genauso wie der Wunsch nach ewiger Jugend bzw. jugendlichem Aussehen, um es stark verkürzt auszudrücken. Die Menschen sterben nun nicht mehr im häuslichen Umfeld, sondern vor allem in Institutionen, wie dem Krankenhaus oder Pflegeheim. 

Somit reduziert sich der Kontakt zu Verstorbenen, sodass sich viele Erwachsene zum ersten Mal in der Mitte ihres Lebens mit einer Leiche konfrontiert sehen. Je weniger Kontakt wir zu dem sich verändernden Körper haben, desto mehr wächst auch die Angst vor ihm. 

Zurückkommend zu unserem heutigen System sozialer Medien: Nahezu jeder Bereich des täglichen und gesellschaftlichen Lebens wird öffentlich geteilt – bis auf den Tod. Sinnbildlich steht diese Leerstelle also auch für unseren Umgang damit. Wir verdrängen den Tod der anderen und damit auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Den Tod als Teil des Lebens zu verstehen und einzugliedern in den Kreislauf des Lebens, wäre ein wichtiger Schritt, um dem Lebensende und den Sterbenden mit Würde zu begegnen, wie es beispielsweise die Hospizbewegung seit einigen Jahrzehnten tut. Dies ist eng verbunden mit der Wahrnehmung des toten Körpers. Zu sehen, zu fühlen und zu ‚begreifen’, hilft auch im Sinne eines Trauerprozesses zu verstehen, dass die Person nicht mehr lebendig ist. Die Fotografie schaltet sich in diesen Trauerprozess und zeugt nach der Bestattung von der dauerhaften Abwesenheit des Verstorbenen. 

„Nochmal leben vor dem Tod“

Einen passenden Einblick dazu liefert Walter Schels Fotobuchprojekt „Nochmal leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben“, das in Zusammenarbeit mit der Journalistin Beate Lakotta entstanden ist. Die dort gezeigten Doppelportraits aus den Jahren 2003 und 2004 (einmal in der Endphase des Lebens, einmal nach Eintritt des Todes aufgenommen) sind in verschiedenen Hospizen entstanden und wurden bzw. werden vielfach ausgestellt und rezipiert.

Walter Schels
Foto: Walter Schels, aus dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod“  (DVA).

Wirken diese Fotos auf uns befremdlich? Wollen wir wegsehen? Ängstigen Sie uns? Nein, das machen sie sicherlich nicht. Vielmehr zeigen sie uns, dass wir uns dem Tod stellen, den Toten gegenüber treten und uns verabschieden können. Den Hinterbliebenen dienen Sie als Objekt der Erinnerung und Medium der Trauerbewältigung. Im übertragenen Sinn bietet das Bild dem Verstorbenen zudem einen Ort, an dem sich der Angehörige des Todes vergewissern kann. 

Welche Vorbehalte können wir nun noch dem Totenportrait gegenüber haben?

Walter Schels, aus dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod“ (DVA)
Foto: Walter Schels, aus dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod“  (DVA).

Saskia Ketz arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Dortmund, forscht und lehrt zur Sichtbarkeit des Todes in Kunst und Design. In ihrer Promotion beschäftigt sie sich – theoretisch wie praktisch – mit zeitgenössischen Abschiedsritualen im Kontext der Fotografie.

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