Da sind drei junge Menschen auf einem Friedhof. Sie schlendern an mit Moos bedeckten Grabsteinen vorbei. Ein Spaziergang? Ein frisch ausgehobenes Grab, in dem eine Leiche liegt. Eine junge Frau aus der Gruppe schiebt den Verstorbenen leicht zur Seite und legt sich emotionslos direkt daneben. Unter dem Titel „Antizipation des eigenen Abschieds“ inszenierte Rosemarie Trockel eine filmische Situation, in denen sich Menschen spielerisch mit dem Tod konfrontieren und ihn gleichermaßen erproben. Unerwartet und doch bemerkenswert normal signalisiert die Künstlerin auf einer körperlichen Ebene genau das, wovor wir uns meist unser ganzes Leben lang scheuen: die Beschäftigung mit dem eigenen Tod; der eigenen Trauer.
Die Erfahrung von Verlust, Trauer und Wandel sind in einer Dreiecksbeziehung miteinander verbunden und voneinander abhängig. Die Ausstellung „Trauern. Von Verlust und Veränderung“ versucht dieses Potenzial in Worten und Bildern auszudrücken. Dabei werden rund 30 zeitgenössische künstlerische Positionen aus knapp 15 Ländern gezeigt. Jeder Künstler vermag mit seinem eigenen lebensbiografischen Schwerpunkt feine Konturen einer gesellschaftlich durchzogenen Trauer(n)kultur zu finden.
„I´m too sad to tell you“
Da findet man den niederländischen Künstler Bas Jan Ader in einer Selbstinszenierung vor der Kamera wieder, der sich gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz öffentlich mit einem Tabubruch der Männlichkeit positioniert: er weint und schluchzt, bis sein Körper bebend vor Schmerz wieder zur Ruhe kommt.
Ragnar Kjartansson gekleidet á la Frank Sinatra wird von einem mehrköpfigen Orchester begleitet und gibt in unterschiedlichen Stimmungslagen den Satz „Sorrow conquers happiness“ (Der Kummer besiegt das Glück) wieder. (Video hier anschauen)
Dabei geht es nicht nur um das, was wir als Gesellschaft unter trauern verstehen: der Verlust eines geliebten Menschen durch Trennung oder Tod ist sicherlich führend in der Begriffsdefinition, doch auch der Abschied von Idealen oder Visionen, von Heimat und Vertrautheit unterliegt dem Trauer(n)prozess. In verschiedenen Kapiteln wie Melancholie und Trauer, Trauer und Geschlecht, Kollektive Trauer, Trauer und Protest, Formen des Abschieds, Die Unfähigkeit zu trauern wird der Facettenreichtum individuell thematisiert.
Ist Trauer der Verlust gesellschaftlicher Ideale?
Als thematischer Schwerpunkt wird der Mord an John F. Kennedys Bruder Bob aufgegriffen, der am 6. Juni 1968 erschossen wurde. Eine Welle der Hoffnungslosigkeit durchzog damals die USA. Der Leichnam wurde per Zug von New York nach Washington D.C. gebracht. An den Bahngleisen verabschiedeten sich schätzungsweise eine Millionen Menschen. Paulo Fusco, Rein Jelle Terpstra und Philippe Parreno widmeten sich dem Mordfall an Bob Kennedy aus unterschiedlicher Perspektive. Da geht es um den Verlust und den Zerfall gesellschaftlicher Ideale eines politischen Systems, die Ungewissheit und Sorge was danach kommt. Trauer ist politisch bedeutsam und gibt Rückschlüsse zu gesellschaftlichen Strukturen. Ob die Bindung zu einem Menschen oder zu einem Ort, aber letztlich „enthüllt die Trauer, die wir durchleben, etwas von dem, wer wir sind.“
Nach BESSER SCHEITERN (2013) und WARTEN (2017) ist TRAUERN (2020) das dritte Thema einer Ausstellungsserie der Hamburger Kunsthalle, die sich mit Tabu- und Grenzthemen auseinandersetzt.
Die Ausstellung läuft noch bis zum 2. August 2020. Weitere Informationen gibt es auf der Seite der Hamburger Kunsthalle.
Literaturempfehlungen der Hamburger Kunsthalle:
- Der Freund – Sigrid Nunez
- Gefährdetes Leben – Judith Butler
- Herzliches Beileid – Reiner Sörries
- KURT – Sarah Kuttner
- Laufen – Isabel Bogdan
- Logbuch eines unbarmherzigen Jahres – Connie Palmen
- LOVE oder meine schönsten Beerdigungen – Jason Reynolds
- Tagebuch der Trauer – Roland Barthes
- Über die Vergänglichkeit – Ina Schmidt
- Vom Ende der Einsamkeit – Benedict Wells