Ich stehe an der Kasse eines Supermarktes. Vor mir auf dem Einkaufsband liegen zehn Schokoladennikoläuse. Klassisch. Mit der Geschmacksrichtung Vollmilch. Heute ist der 6. Dezember und ich der Schokoladenüberbringer für die Menschen auf der Palliativstation. Zehn Nikoläuse für zehn Patienten. Meine Besuche auf der Palli werden zwar immer seltener, aber dafür nicht minder intensiver.
Bereits zu beiden Seiten des langen Ganges sind die Kommoden, Schränkchen und Sitzgelegenheiten mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Für mich ist es nach langer Zeit wie ein Heimkommen. Viel zu lange war ich nicht mehr hier. Ich habe es vermisst. Der Stationsleiter ist der erste, dem ich in die Arme laufe. Er drückt mich ganz fest, und als ich ihm meine Nikolaussammlung präsentiere, kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es ist alles noch so vertraut, nur die Menschen hinter den Türen sind Andere.
Auf Liese* im Zimmer 208 stoße ich zuerst. Das Fenster ist gekippt und der Wind lässt die durchsichtigen Vorhänge leicht wehen. Mich fröstelt es und ich ziehe meine Jacke enger um den Körper. Liese liegt mit einem Kurzarmshirt im Bett. Der Aufdruck „Flower Po er“ springt mir in knalligen Farben entgegen. Darüber eine Ansammlung von dicken und dünnen Schläuchen, die sich ihren Weg in ihren kleinen Körper bahnen. Sie schaut mich einen Moment aufmerksam an und deutet mit ihrem nackten Arm auf mich, um ihn im nächsten Moment wieder sinken zu lassen. Gedanken werden zu Worte, die doch unausgesprochen bleiben.
Ihr Arm ist so dünn, dass sich Knochen und Muskeln deutlich abzeichnen. Es gibt nicht mehr viel, wovon ihr Körper zehren kann. Auf ihrem Nachttisch steht eine große Packung selbst gebackener Plätzchen. Unberührt. Der starke Husten und die Appetitlosigkeit setzen ihr zu. Der Hunger bleibt aus. Ein ständiges Brechgefühl beherrscht ihren Tag. „Nimm ein paar“, sagt sie zu und ihre Stimme klingt dabei ganz tief und rauchig. Sie lenkt mich mit ihrem Blick zu der Plätzchendose. „Ich kann die doch eh nicht alle alleine aufessen“. Wir einigen uns auf einen Tausch. Liese bekommt ihren kleinen Nikolaus und ich darf mir ein Plätzchen aussuchen. Damit ist sie einverstanden. Schweigend sitzen wir da. Liese betrachtet den Mann aus Schokolade eingehend. Dann schnellt ihr Blick nach oben: „Mein Neffe ist vor zwei Wochen an einem Gehirntumor gestorben. Jetzt sind seine Frau und seine drei kleinen Kinder alleine – ohne Mann und Vater. Seitdem können sie mich nicht mehr besuchen kommen. Ich verstehe das, aber es ist hart. Sie waren mir das Liebste und er mein liebster Neffe.“
Was passiert, wenn das Leben sich so vehement gegen sich selbst wehrt. Haben wir unsere persönliche Geschichte dann schon zu Ende erzählt? Sind wir hier bereits fertig auf der Welt? Oder gibt es womöglich etwas, was uns dringender braucht, als das Leben selbst? Niemand weiß das. Aber egal, an was wir glauben, wird es den Tod eines geliebten Menschen nie rechtfertigen können, weil diese Lücke, die dieser Mensch hinterlassen hat, immer bleiben wird. Diese Verletzung. Für immer.
Nach einigen Minuten des Sprechens ist Liese erschöpft. Doch da gibt es noch etwas wichtiges, was sie mir erzählen möchte: unsere Wege haben sich bereits einmal gekreuzt. An Ostern diesen Jahres sind wir uns begegnet, als ich selbstgebastelte Anhänger aus Tonpapier verteilt habe. „Der kleine Hase hängt bei mir im Wohnzimmer“, sagt Liese und lächelt. „Den Nikolaus stelle ich dazu, wenn ich wieder daheim bin“.
Ein paar Tage später verstirbt sie auf der Palliativstation.
"Jeder Einzelne, so ist es nun mal, berührt das Leben eines anderen und jeder andere das des Nächsten – die Welt ist voller Geschichten, und diese Geschichten sind eins."
Mitch Albom – Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen.
Was einem fremd ist, man nicht kennt und gesellschaftlich verdrängt wird – dazu äußert man sich nur ungern. Ich kann manchmal verstehen, wenn nur wenige mit meiner Arbeit auf der Palliativstation etwas anfangen können. Dabei ist es für mich viel mehr, als ein gesellschaftliches Tabu anzugehen. Mir geht es um die Menschen. Ich selbst nehme mich in dem Moment zurück, bin zwar da, aber nicht zum Eigennutz. Die Geschichten, die mir erzählt werden, sind einzigartig in ihrer Intensität, genauso wie Erlebnisse, die ich durch bloße Teilnahme ohne Worte erfahren habe.
Als ich vorsichtig durch den kleinen Spalt in das Zimmer spähe, sitzt die Ehefrau von Helmut* auf dem Bett, zwei Freunde daneben. Er redet wirres Zeug, sagt seine Frau, lacht und deckt ihn zu. Er muss sich ausruhen, denn der Besuch von so vielen Menschen ist anstrengend. Ich komme mit Schokolade, das letzte Mal war es eine Rose, erinnert er sich. In manchen Momenten ist er so klar. Genauso schnell driftet er aber auch wieder ab. Diese Momente beunruhigen ihn. Da geht sein Atem dann ganz flach. Auch die Freunde sitzen unbeholfen daneben und wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Nur seine Frau nimmt seine Hand. Ruhe kehrt ein bei Helmut. Er atmet wieder regelmäßig ein und aus.
Wie soll man schöne Weihnachten wünschen, wenn jeder Tag der letzte sein könnte? Jeder Tag aber auch ein Geschenk. Ambivalent. Denn wie würde es sein? Das letzte Weihnachtsfest? Gibt es dann noch ein Wir? Oder ist es schon ein Allein – mit Dir in meiner Erinnerung?
Dann wird die Frau von Helmut Witwe sein. Nach 45 Ehejahren.
Es war im Sommer 2017, als ich das erste Mal an einer Trauergruppe teilnehmen durfte. Der einzige Mann in der Runde war Herr B.*. Auch beim nächsten Mal, als ich kurzfristig die Leitung übernahm, war er da. Seine Frau war kürzlich verstorben. Der Verlust so tief, das Leben zu schmerzvoll, als ob die Luft nicht zum Atmen genügen würde.
Jetzt ist Herr B. selbst Sterbender. Palliative statt kurnative Versorgung. Austherapiert sozusagen. Als ich mich zu ihm ans Bett setze, wirkt er noch recht munter. Doch nach ein paar Minuten schweift er ab. Seine Stimme wird leise und brüchig und aus seinen vorher so strahlenden Augen spricht die Müdigkeit. Auf einmal ist es ganz still. Angenehm ruhig. Herr B. hat seine Augen geschlossen. Ich stelle den Nikolaus auf seinen Nachtisch. Der soll jetzt über ihn wachen und begleiten, denke ich mir. Leise ziehe ich die Tür hinter mir zu und lasse damit auch seine Geschichte bei ihm. Zurück auf dem Flur. Zurück in der Gegenwart. Zurück bei mir selbst.
Herr B. war leidenschaftlicher Zeichner. Er hat sich verewigt, hat Erinnerungen zurückgelassen. Jeder Mensch lässt etwas zurück, wenn er geht und verlässt uns damit doch nicht ganz. So lange wir die Erinnerungen an diesen Menschen immer wieder aufleben lassen und mit Anderen teilen, erlischt sein Lebensgeist nicht.
Es fällt mir leichter, die Palliativstation zu verlassen. Zu gehen, obwohl andere Menschen dort bleiben müssen. Manche versterben hier, manche gehen nochmal nach Hause. Wir alle haben ein einzigartiges Leben geschenkt bekommen und doch handeln wir oft so leichtfertig, verletzen andere Menschen mit unseren Worten, Taten oder Blicken. All diesen Ungerechtigkeiten kann ich für ein paar Stunden entschwinden, wenn ich dem Leben wieder so nah sein kann, wie sonst nirgends.
* Die Namen der Menschen wurden von der Autorin geändert.
Vorsichtig klopfe ich an eine Tür der Palliativstation und trete ein. Ich weiß bereits, dass der junge Mann in dem Zimmer erst Mitte 20 und damit etwas älter ist als ich. Seine Diagnose: ein äußerst seltener Hirntumor. In der Mitte des Zimmers steht ein Mann mit perfekt sitzender Jeans, glatt gebügeltem Hemd und grau meliertem Haar. Er wirkt verloren und blickt mich fragend an. Wahrscheinlich der Vater, denke ich. Sein Sohn liegt im Bett. Die Decke so weit hochgezogen, dass nur der Kopf herausschaut.
„Möchtet ihr einen Eiskaffee?“, frage ich mit einem Lächeln. Ich verschränke meine Arme hinterm Rücken, nehme mich selbst in dem Moment zurück. Sorgenvoll blickt der Vater zu seinem Sohn. „Die Medikation wurde gerade neu eingestellt, er darf noch nichts essen. Aber ich hätte sehr gerne einen“, antwortet er. Die Erleichterung, eine einfache Entscheidung treffen zu können, ist ihm anzusehen. Etwas Ablenkung kann dem Leben Normalität zurückgeben.
„Momentan sind viele junge Patienten da“, sagt Barbara Heil, Sozialpädagogin auf der Palliativstation. Im Oktober 2009 wurde das Interdisziplinäre Zentrum Palliativmedizin in Würzburg eröffnet und momentan stehen zehn Einzelzimmer zur Verfügung. Ein Team aus Ärzten, Pflegekräften, Psychologen, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Physiotherapeuten und ehrenamtlichen Helfern arbeitet eng zusammen. Bevor ich nach Hamburg zog, war ich ein Teil davon.
Die ganzheitliche Sicht auf den Menschen ist bei der Arbeit entscheidend, um auf individuelle Wünsche der Schwerkranken eingehen zu können. „Auch Selbsthilfe- und Entspannungsgruppen für Krebspatienten und Angehörige werden wöchentlich angeboten, um ein vielfältiges Angebot zu schaffen“, so Heil.
Das deutsche Wort Palliativmedizin ist für das Angebot eigentlich nicht aussagekräftig genug. In englischsprachigen Ländern spricht man von Palliative Care und schließt so die Fürsorge und Betreuung des Sterbenden und seiner Angehörigen mit ein. Der Begriff Palliativmedizin kommt aus dem Lateinischen von „palliare“ und bedeutet: mit einem Mantel umhüllen. Die Weltgesundheitsorganisation definiert darunter ein „ganzheitliches Betreuungskonzept zur Begleitung von Sterbenden“.
Hauptaufgabe der Palliativmedizin ist es, die Lebensqualität des sterbenden Menschen zu bewahren und zu verbessern. Im Endstadium einer tödlichen Erkrankung geht es nicht mehr um eine heilungsorientierte Behandlung oder lebensverlängernde Maßnahmen, sondern darum Schmerzen zu lindern, Gespräche zu führen, und Therapien oder Entspannungsrituale anzubieten. Auch Angehörige, Freunde und Bekannte werden mit ihren Bedürfnissen und Sorgen in die Behandlung eingebunden.
Im Gegensatz zum Hospiz sind Palliativstationen Teil eines Krankenhauses, deshalb arbeiten hier auch Ärzte. Sie können die Patienten nach Hause oder in eine andere stationäre Einrichtung entlassen. Aber auch hier sterben die Menschen. Dann wird eine Kerze direkt vor die Zimmertür gestellt.
In dem nächsten Zimmer liegt ein älterer Herr, ebenfalls mit einem Gehirntumor. Verbrauchte Luft schlägt mir entgegen. An seinem Schrank klebt ein Zettel: Der Patient hat strenge Bettruhe. Er wirkt erschöpft, tut sich schwer beim Sprechen. Den Eistee, den ich ihm reiche, trinkt er gierig und sinkt danach kraftlos zurück in seine Kissen. Auch das gehört dazu, den Menschen eine Freude zu bereiten oder einfach nur da zu sein. Bis zum Ende als lebender Mensch behandelt zu werden und nicht einsam zu sterben, ist auch Lebensqualität.
Nebenan liegt das Zimmer einer zerbrechlich wirkenden Frau. Sie ist um die 50 Jahre alt. Die Haut ist blass und ihre Augen liegen tief in den Höhlen. Haare hat sie keine mehr. Ein leichter Flaum auf dem Kopf ist alles, was nach der Chemotherapie geblieben ist. Die Eiswürfel klirren, als ich ihr den Kräutereistee reiche. Mit einem Strahlen greift sie mit ihren dünnen Armen danach. „Wenn ich wieder zu Kräften komme, möchte ich eine Kreuzfahrt machen. Am liebsten nach Bali“, erzählt sie. „Das wird die Reise meines Lebens.“
Eigentlich ein Freitag wie jeder andere. Menschen hetzen mit ausdruckslosen Gesichtern und automatisierten Bewegungen auf ihren Feierabend zu. Mein Weg führt mich daran vorbei, mit einem Strauß gelber Blumen in der Hand.
Ich knipse die überstehenden Blätter ab und stelle die Chrysanthemen in die bereitgestellten Vasen. Es ist bereits Nachmittag und still auf dem Flur der Palliativstation. Auf jeden Nachttisch der insgesamt zehn Patienten stelle ich einen Blumenstrauß. In einem der Zimmer sind die Balkontüren geöffnet. Frische Luft strömt hinein und lässt die Vorhänge wehen. Vor mir liegt ein junger Mann. Die Bettdecke ist locker über seinen Beinen ausgebreitet, er trägt ein T-Shirt. Sein Gesicht wirkt eingefallen – im Gegensatz zu seinen wachen, braunen Augen, mit denen er mich erstaunt anblickt. „Ich habe Ihnen Blumen mitgebracht“, sage ich und breche die Stille.
"Ich dachte, jetzt wird alles gut. Dann kam die Diagnose."
Amir (Name geändert)
Amir* (Name geändert) kommt aus dem Iran und ist vor drei Jahren mit seiner Familie nach Deutschland geflüchtet. Vor einem halben Jahr begannen die Schmerzen in der Hüfte, die mit ein paar Stunden Physiotherapie behandelt wurden. Bei einer Routineuntersuchung entdeckten die Ärzte dann den Knochentumor. Eine Operation war nicht möglich, der Tumor war bereits zu groß. Auch nach einer Chemotherapie wuchs der Krebs weiter.
„Ich dachte ich komme nach Deutschland und alles wird gut. Dann kam die Diagnose“, sagt Amir. Tränen schimmern in seinen Augen, er dreht seinen Kopf zur offenen Balkontür. Doch er gab nicht auf, kontaktierte deutschlandweit verschiedene Ärzte. Einer von ihnen entschied sich für einen chirurgischen Eingriff. Der Tumor konnte größtenteils entfernt werden, doch während der Operation wurde ein Nerv verletzt. Seitdem kann Amir sein linkes Bein nicht mehr bewegen.
Sein Blick wandert zu den Blumen. Prachtvoll, in herrlichem Gelb erstrahlen sie. „Im Iran ist Blau die Farbe der Trauer. Gelbe Blumen werden nur auf Friedhöfen verteilt und auf die Gräber gelegt“, sagt Amir und fügt grinsend hinzu: „Aber wir sind ja in Deutschland und gelb ist sogar meine Lieblingsfarbe“. Ich sitze lange an seiner Seite. Wir sprechen miteinander, schweigen mindestens genauso lange. In den Gesprächspausen nehme ich das monotone Ticken der Uhr wahr. Die Momente in denen wir nicht reden, sind die Intensivsten – und sie wirken immer noch nach.
„Mein Deutsch ist wie das von einem Kind, mit ganz einfachen Wörtern“, sagt Amir irgendwann und zeigt, wie verzweifelt er ist. Einerseits wegen seiner zerstörten Träume: Im Iran studierte er Geografie und wollte in Deutschland seine Dissertation über den Klimawandel beenden. Andererseits, weil er eine Frau und Kinder hat, die ihn jeden Tag besuchen und für die er bald nicht mehr da sein kann. Die beiden Jungs sind erst 3 Jahre und 8 Monate alt.
"Bei jeder Begegnung können wir mit dem Herzen lernen"
Amir (Name geändert)
Unser Gespräch wird von abrupten Themenwechseln begleitet: „Das ist gut was du machst“, sagt Amir, als ich ihm erkläre, warum ich hier regelmäßig zu Besuch bin. Er scheint unzufrieden mit seiner Wortwahl und greift nach seinem Tablet. „Respektvoll“ ertönt die Stimme des Übersetzungsprogramms. Er schaut mich an und nickt.
Das Ticken der Uhr höre ich schon längst nicht mehr. Doch irgendwann kommt der Moment, in dem man sich verabschieden muss. Amir hebt seine Hand. Kurz schwebt sie verloren in der Luft und fällt dann wieder kraftlos auf das Bettlaken. Es wirkt wie ein Versuch sich zu verabschieden, die Hand zu geben oder zu umarmen. Doch es fehlt die Energie. Ich traue mich nicht ihn zu umarmen, reagiere intuitiv und verlasse den Raum. Nicht ohne vorher noch ein paar Abschiedsworte zu murmeln.
Ich stehe auf dem Flur der Station und fühle mich schlecht, als hätte ich dem Gespräch keinen passenden Abschluss gegeben. Ich bin gegangen, habe ihn mit seinen Zweifeln und Ängsten allein gelassen. Die Seelsorgerin der Palliativstation kommt auf mich zu und ich erzähle ihr, was ich erlebt habe. „Bei jeder Begegnung können wir mit dem Herzen lernen. Das ist so schön“, sagt sie. „Es ist möglich, nicht zu sprechen und ganz einfach zu kommunizieren, im Schweigen“, meint sie und lächelt. Ich fühle mich wieder ganz leicht.