Wir verdrängen gerne das Sterben und den Tod. Erst ist eure Mutter, dann euer Vater gestorben. Eine absolute Extremsituation. Wie habt ihr es geschafft, nach dem Tod eurer Eltern zurück ins Leben zu finden, wenn sich vorher eure ganze Realität auf das Sterben konzentriert hat?

Seit unserer Geburt werden wir mit den Themen Krankheit und Endlichkeit konfrontiert. Papa musste sich bereits in Isabels Kindesalter seiner ersten Krebserkrankung stellen – aus diesem Grund liegen auch 6 Jahre zwischen uns.

Leider hat der große Altersunterschied dazu geführt, dass wir uns früher überhaupt nicht verstanden haben – wir waren wie Feuer und Wasser. Zum Glück wird man mit den Jahren nicht nur älter, sondern tatsächlich auch weiser. Heute sind wir froh, einander zu haben und verbringen gerne Zeit miteinander. Man hat immer zwei Möglichkeiten, wenn man Leid erfährt: an dem Trauma zu Grunde zu gehen oder sich weiterzuentwickeln.

Jede Diagnose unserer Eltern hat uns im Laufe der Jahre immer wieder erneut den Boden unter den Füßen weggerissen. An diese Zeit werden wir uns unser ganzes Leben lang erinnern. Die Fassungslosigkeit, das Hoffen auf ein Wunder, die lähmende Angst, aber auch die Gewissheit, unseren Eltern immer beigestanden und ihre Wünsche respektiert zu haben, auch über ihren Tod hinaus. Durch unsere Nähe zu den Niederlanden hatten wir ganz andere Möglichkeiten. Ein Teil der Asche verweilt jetzt in einem Armband. Es zeigt uns, dass sie immer an unserer Seite sind.

"Erinnerungen sind das Wertvollste, was uns von unseren Eltern bleibt."

Isabel und Corinna Krücker
Habt ihr teilweise nur noch „funktioniert“?

„Funktioniert“ ist hier genau das richtige Wort. Leider bleibt die Welt nicht stehen, sondern dreht sich einfach weiter. Plötzlich standen wir vor der schwierigen Aufgabe, uns gemeinsam um die Hinterlassenschaften zu kümmern, alle Freunde und Bekannte anzurufen und die Einäscherung zu organisieren. All das, was Papa damals bei Mamas Tod übernommen hatte. Wir waren oft wie betäubt. Anfangs konnten wir einfach nicht glauben, was passiert ist. Grundlegendes wie essen, trinken und schlafen fiel uns schwer. Gleichzeitig mussten wir unser Elternhaus verkaufen und so viel Bürokratisches erledigen – das kann überfordern. Deshalb war es für uns am Wichtigsten, dass uns jemand im Alltag unterstützt. Für Trauer bleibt oft gar nicht richtig Zeit. Darum geht es: das eigene Überleben erstmal sichern.

Wie ist euer Umfeld damit umgegangen?

Wir sind sehr froh darüber, dass wir beide Partner haben, die in dieser Zeit viele Dinge für uns in die Hand genommen haben und immer für uns da sind.

Allerdings haben wir auch gemerkt, dass manche Leute um uns herum nicht automatisch auf sensibel umstellen. Viele sprechen die Situation nicht an, weil sie selbst Angst haben, etwas falsch zu machen. Aber man hilft „uns Hinterbliebenen“ nicht, indem man über den Verlust schweigt. Keiner kann uns unseren Schmerz nehmen. Aber dabei sein und bleiben, während wir ihn tragen, schon. Nichts kann unsere Eltern zurückbringen, aber unsere Trauer ist kein Problem, das man lösen muss.

Die Eltern von Isabel und Corinna Krücker auf Rügen
Als Kind sind die Eltern unsere größten Vorbilder. Unsere Eltern können alles, wissen auf alles eine Antwort – sind eigentlich unsterblich. Wie hat sich eure Sicht auf das Leben verändert, als ihr von der Diagnose eurer Mutter erfahren habt?

Bereits als Kinder mussten wir mit zunehmendem Krankheitsverlauf feststellen, dass sich immer mehr Menschen aus dem Leben unserer Eltern verabschiedeten – nicht nur Freunde und Bekannte, sondern auch die eigene Familie. Dadurch konnten wir aber auch früh lernen, dass es nicht auf die Menge an Menschen um uns herum ankommt, sondern auf die richtigen. 

Man sollte meinen, dass man mit einer Krebserkrankung schon gestraft genug wäre, aber es werden einem noch so viele Steine mehr in den Weg gelegt: Unsere Eltern mussten sich regelmäßig mit der Krankenkasse streiten, z.B. über Fahrtkosten. Das Argument: als kranke Chemopatient*in hat man genug Zeit die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen.

Für Mama war es sehr schwer, dass auch ihre eigenen Eltern nur noch für Anstandsbesuche kamen. Sie hat sehr oft geweint und sich gewünscht, nochmal von ihnen in den Arm genommen zu werden. Leider sollte es dazu nicht mehr kommen. Nach ihrem Tod haben sich unsere Großeltern noch nicht einmal nach der Bestattung erkundigt. 

Die Zeit nach ihrem Tod war schlimm, nicht nur für uns, sondern natürlich auch für unseren Papa. Ihn so traurig und hilflos zu sehen, brach uns das Herz. Ihre Ehe war bei Weitem nicht perfekt, aber mit unserer Mama starb noch so viel mehr: seine Ehefrau, große Liebe und beste Freundin. Unser Verhältnis hat sich dadurch verändert und auch teilweise umgedreht. Wir haben weiterhin versucht, ihn so viel wie möglich zu unterstützen. Wir waren füreinander da, haben uns an früher erinnert: „Eine Mama kann vieles ersetzen – aber niemand kann eine Mama ersetzen.“

"Unsere Trauer ist kein Problem, das man lösen muss."

Isabel und Corinna Krücker
Was sind die berührendsten Momente, die ihr mit euren Eltern erlebt habt?

Wir haben unglaublich tolle Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit unseren Eltern: Mama, die immer da war, wenn wir aus der Schule nach Hause kamen. Papa, der mit Begeisterung Musik aufnahm und wir somit immer die aktuellsten Kassetten für unseren Walkman hatten. Die gemeinsamen Urlaube auf Gran Canaria. Der Roadtrip durch den Westen der USA, den wir gerne noch zu viert gemacht hätten. Es sind einfach alle Geburtstage, Feste, Spieleabende und auch die kleinen Momente im Alltag, die wir zusammen erlebt haben.

Aber in der ersten Zeit waren all diese Erinnerungen unheimlich schmerzhaft. Eine bestimmte Situation, ein Lied im Radio, ein altes Foto – alles erinnerte uns an unsere Eltern und die traurige Tatsache, dass sie nie wieder da sein werden. Irgendwann kommt jedoch der Zeitpunkt, an dem der Schmerz einer Wehmut weicht und man erkennt: Erinnerungen sind das Wertvollste, was uns von unseren Eltern bleibt.

Was vermisst ihr am meisten?

Am meisten vermissen wir, dass wir nie wieder über alles Mögliche mit den beiden sprechen und lachen können. Selbst die Kämpfe, die wir ausgetragen haben, weil wir alle einfach verdammte Dickköpfe waren. Wir können ihnen nichts mehr erzählen oder sie umarmen. Oft denken wir daran, was sie zu bestimmten Dingen gesagt oder worüber sie sich gefreut hätten. Es macht uns traurig, dass Mama und Papa so viele wichtige Momente in unserem Leben nicht mehr miterleben können.

"Sterben geht jeden etwas an."

Isabel und Corinna Krücker
Wie hat sich eurer Leben seit dem Tod eurer Eltern verändert?

Nach dem Tod unserer Eltern war es für uns unbegreiflich, dass die meisten Dinge einfach weiterlaufen wie zuvor. Wenn die eigenen Eltern sterben, ist das ein Schock, der ein riesiges Loch hinterlässt. Ganz egal, wie alt man ist, der Abschied kommt immer viel zu früh. 

Lange Zeit haben wir unser eigenes Leben zurückgestellt und waren in einer Habachtstellung. Wir haben unsere Eltern gepflegt und mitbekommen, wie sie langsam aber sicher immer hilfloser wurden. Plötzlich vertauschten sich die Rollen. Das war eine enorme psychische Belastung. Jetzt müssen wir uns keine Sorgen mehr um die die beiden machen.

Wir wissen das Leben heute mehr zu schätzen und erkennen, wie wertvoll es ist, gesund zu sein. Wir akzeptieren, dass Veränderungen zum Leben dazugehören, auch wenn wir auf einige lieber verzichtet hätten. Aus dieser Erfahrung heraus entstand bei uns das dringende Bedürfnis für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod zu kämpfen. Damit niemand mehr so sterben muss wie unsere Eltern, denen wir unsere Petition gewidmet haben. Darauf wären sie bestimmt sehr stolz.

„You never know how strong you are until being strong is the only choice you have.“

Die Familie Krücker
Werdet ihr oft mit Floskeln wie „Zeit heilt alle Wunden“, „ihr seid ja noch jung“ konfrontiert? Wie geht ihr damit um?

Trauer dauert nicht nur ein paar Wochen, Monate oder Jahre und ist dann vorbei. Sie hört nie auf, aber man lernt damit zu leben.

Es ist schade, dass das Sterben und der Tod in unserer Gesellschaft oft noch Tabuthemen sind, mit denen man sich lieber nicht auseinandersetzen möchte. Das führt dazu, dass wir nicht nur mit unserem eigenen, oft ambivalenten Gefühlschaos zurechtkommen, sondern uns auch noch darum Gedanken machen müssen, dass manche Bemerkungen nichts mit unserer Trauer zu tun haben, da Außenstehende sich nur schwer in die Situation hineinversetzen können. Solche Äußerungen sind für die Trauerarbeit nicht hilfreich und setzen uns noch zusätzlich unter Druck.

Ihr sagt selbst, dass ein Morphium-Tropf und die Option des Sterbefastens kein menschenwürdiges Ende bedeuten. Zumindest nicht für jeden Menschen. Viele Ärzt*innen und Politiker*innen halten dagegen. Wieso?

Unsere Eltern gehörten leider zu denjenigen, die zu früh gehen mussten und dabei einen langsamen Tod fanden. Papa hatte explizit darum gebeten, zu Mama gehen zu dürfen. Es war nur noch eine Zumutung für ihn. Er hat quasi nur noch auf seinen letzten Atemzug gewartet. Am 1. Januar 2021 verstarb er im Hospiz. Der größte Respekt gilt unseren Pflegekräften, die in unserem kaputt gesparten, kranken System bei minimalem Hungerlohn und maximaler Belastung, oftmals mit einem Bein im Knast stehend, dennoch jeden Tag zur Arbeit gehen, wobei sie gar nicht in der Lage sind, jedem Patienten gerecht werden zu können. Deshalb und weil wir ihn nicht allein lassen wollten, saßen wir abwechselnd Tag und Nacht bei ihm, bis er seine Augen für immer schloss.

Bereits zwei Mal in seinem Leben hatte unser Papa den Krebs besiegt. Beim dritten Mal hat er einfach keine Kraft mehr gehabt. Erst ein paar Jahre zuvor hatten wir alle mit Mamas Rezidiv gekämpft und verloren. Mit seiner Ehefrau war auch für Papa jeglicher Kampfgeist gestorben. Zuletzt war er kaum mehr ansprechbar. Aufgrund der Metastasen in seinem Körper hat er zum Schluss noch nicht einmal mehr seine Arme bewegen, geschweige denn den Notrufknopf drücken können. Solange er noch sprechen konnte, hat er wiederholt gesagt, dass er nicht mehr leben wolle. Er hat Mama in ihren letzten Tagen begleitet und ahnte daher, was ihm bevorstand.

Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang 2020 ein seit 2015 bestehendes Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gekippt, da es das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben verletze. Grundsätzlich hat demnach jeder Mensch die Freiheit, sich das Leben zu nehmen und hierfür auch Hilfe durch Dritte in Anspruch zu nehmen!

Theoretisch wäre eine professionelle Sterbehilfe also bereits möglich, aber praktisch noch nicht umsetzbar. Das Verbot der ärztlichen Sterbehilfe wurde zwischenzeitlich am 5. Mai 2021 aufgehoben. Schwerkranke haben eigentlich bereits seit 2017 Anspruch auf ein Medikament, welches ihr Leiden und Leben beendet, aber ihre Anträge werden nicht bearbeitet. Also bleibt nur die Möglichkeit einer passiven Sterbehilfe durch Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen und indirekten Sterbehilfe durch Schmerzmedikation. Wenn ein Patient schon so abgeschossen werden darf, dass er nichts mehr mitbekommt – wieso darf man ihn dann nicht erlösen?

"Selbstbestimmtes Sterben ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht."

Isabel und Corinna Krücker

Jeder kann von heute auf morgen krank werden und in die Situation kommen. Dann sollte man wissen, dass man diese Möglichkeit hat, statt zuerst noch an einer verpflichtenden Beratung zu der Verabreichung eines letalen Medikaments teilnehmen zu müssen, die mindestens 10 Tage und höchstens 8 Wochen vorher erfolgen soll, wie es im ersten Gesetzesentwurf geschrieben steht. Ein Zeitrahmen, der unseren Eltern nicht geholfen hätte. Ganz zu schweigen davon, dass Selbstbestimmung und Rechtfertigung nicht miteinander vereinbar sind. Diese Maßnahme ist ein Schlag ins Gesicht für viele Betroffene und ein Zeichen dafür, dass erneut völlig unzureichende realitätsferne Maßnahmen besprochen werden.

Die Würde des Menschen ist unantastbar! Ein Leben darf nicht um jeden Preis gelebt werden müssen, wenn der Mensch selbst das gar nicht mehr kann oder will. Menschen dürfen nicht weiter gegen ihren Willen gequält werden, weil überholte Gesetze einen würdigen Abschied verhindern. Jeder Mensch hängt am Leben und viele klammern sich an den letzten verbleibenden Strohhalm. Es ist doch nicht so, dass bei einem Rechtsanspruch auf professionelle Sterbehilfe gleich das große Massensterben beginnt. Aber allein die Option dazu nimmt eine große Last. Tieren erspart man einen qualvollen Tod durch Einschläfern ohne irgendwelche Diskussionen. Aber den Menschen nicht? 

Unser Papa ist mit Sicherheit kein Einzelfall. Wer darf Menschen mit einer solchen Hintergrundgeschichte ihren Wunsch auf selbstbestimmtes Sterben verwehren? Jeder Politiker sollte ein Praktikum im Hospiz oder Krankenhaus absolvieren, um nur annähernd zu verstehen, was die Betroffenen und ihre Angehörigen durchmachen. Offensichtlich fehlt einigen hier das entsprechende Einfühlungsvermögen.

Laut YouGov befürworten 70% die aktive Sterbehilfe in Deutschland. Ihr habt eine Petition gestartet, wollt damit bis zum Bundestag. Wie kann aktive Sterbehilfe in Deutschland gelingen?

Wir haben die Petition gestartet, weil es keinem zusteht, darüber zu urteilen, wann ein Mensch sein Leben nicht mehr als lebenswert empfinden darf. Selbstbestimmtes Sterben ist ein Grundrecht und kein Privileg, worüber ein anderer entscheiden kann. Es sollte selbstverständlich sein, dass das individuelle Selbstbestimmungsrecht am Lebensende respektiert wird. 

Die derzeit unübersichtliche rechtliche Situation bei der Sterbehilfe führt zu Verwirrung und Unsicherheit. Dabei ist das Thema ohnehin schon schwierig genug.

Wir haben in unserem Petitionstext das Wort „aktiv“ durch „professionell“ ersetzt. Der Grund hierfür war nicht, dass wir aktive Sterbehilfe nun doch ablehnen, jedoch sollte sie ausschließlich im absoluten Härtefall Anwendung finden. Behält der Sterbewillige die Tatherrschaft bspw. nach dem Schweizer Vorbild, handelt es sich um (ärztlich) assistierten Suizid. Die sprachlichen Feinheiten in der Abgrenzung waren auch uns vorher so nicht bekannt. Es ging uns lediglich um die Formulierung und nicht um eine inhaltliche Änderung.

Wir fordern weiterhin eine neue gesetzliche Regelung für die professionelle Sterbehilfe, die das individuelle Selbstbestimmungsrecht am Lebensende garantiert. Wenn wir schon damals nicht gefragt wurden, ob wir leben wollen, so sollte man doch zumindest über das eigene Lebensende bestimmen dürfen, wenn triftige Gründe dafür eingetreten sind.

Die meisten Menschen haben keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Sie wollen gar nicht so schnell wie möglich gehen, sondern so lange wie möglich menschenwürdig leben. Für viele wäre es daher sehr beruhigend nur zu wissen, dass es einen Notausgang gibt. Die Gewissheit, das Lebensende selbstbestimmt in professioneller Sterbebegleitung einleiten zu können, gibt Sicherheit und führt zu mehr Lebensqualität.

"Jeder Politiker sollte ein Praktikum im Hospiz absolvieren. […] Offensichtlich fehlt einigen hier das entsprechende Einfühlungsvermögen."

Isabel und Corinna Krücker

Voraussetzungen einer professionellen Sterbebegleitung aus unserer Sicht:

Weitere notwendige Bedingungen aus unserer Sicht:

Hier gehts zu unserer Petition ↠

Was möchtet ihr unbedingt den Menschen mitgeben, die sagen „mit Sterben und Tod möchte ich mich gar nicht befassen“?

Sterben geht jeden etwas an, denn wir alle müssen irgendwann diese Welt verlassen – manche früher, andere später. Man sollte sich früh genug dessen bewusst sein und damit befassen, solange man noch kann. Sichert euch ab, um euretwillen!

Man kann sein Leben bis zum Sterben nur dann genießen, wenn man weiß, dass auch das Ende selbstbestimmt sein kann. Es ist längst überfällig, die Entscheidung dem zu überlassen, der betroffen ist. Der Tod ist unausweichlich und wie jeder sein Leben gestalten darf, so sollte man auch sein Ableben im Einklang mit sich selbst bestimmen dürfen. 

"Menschen dürfen nicht weiter gegen ihren Willen gequält werden, weil überholte Gesetze einen würdigen Abschied verhindern."

Isabel und Corinna Krücker

Die letzte Veranstaltung vor dem Lockdown im Stadttheater Regensburg war die Auftaktveranstaltung von Regensburg liest ein Buch mit Benedict Wells. Übrigens: In der Zwischenzeit erhielt der Verein den Kulturförderpreis der Stadt Regensburg. (Die Preisverleihung findet am 17. November statt.) Jetzt, Ende September, hat Wells Regensburg einen erneuten Besuch abgestattet, um aus „Die Wahrheit über das Lügen“ vorzulesen.

Lesung von Benedict Wells
Benedict Wells im Gespräch. Fotograf: Mike Koob

Wahrheit und Lügen

Benedict Wells gab in seiner Lesung vor allem tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt. Es erstaunt nicht, dass er mit seinem Bestseller „Vom Ende der Einsamkeit“ ein schweres Gewicht getragen hat. „Man kommt an seine Grenzen. Wenn meine Freunde abends ins Bett gingen, habe ich meistens bis 5 Uhr morgens geschrieben. Jahrelang.“ Sieben Jahre hat Wells an dem Roman gesessen, neue Fassungen geschrieben und alte wieder verworfen. Einen Teil davon haben Platz in „Die Wahrheit über das Lügen“ gefunden, aus dem er vor einem kleinen Publikum vorgelesen hat.

So auch „Die Entstehung der Angst“, in dem es um die Beziehung zwischen Protagonist Jules und seinem Vater geht. Und obwohl es bei Wells immer sehr in die Tiefe geht, wird hier nur ein sehr unscharfes Beziehungsgeflecht abgebildet, um möglichst viel Freiraum für die eigene Interpretation zu lassen. Allem Anschein nach erschien es Wells zu einfach, anhand alter Tagebucheinträge die erleuchtende Erklärung für das schwierige Verhältnis zu liefern. Ganz bewusst ließ er Lücken, um den Lesern die Freiheit zu geben, sich selbst einen zweiten Handlungsstrang dazuzudenken.

"Die leeren Seiten füllen im Angesicht des eigenen Scheiterns. - Schreiben ist intrinsisch."

Benedict Wells

Für Wells ist es wesentlich einfacher Kurzgeschichten zu schreiben. Man setzt emotional nicht all-in wie bei einem Roman. „Das Interessante ist aber eigentlich das nicht schreiben vorher.“ Denn da hat er die ganze Geschichte schon im Kopf, die Handlung, die Charaktere oder irgendwelche lustigen Situationen. Aber, wenn es dann schwarz auf weiß geschrieben steht, ist es oft eine Enttäuschung, zwinkert Wells. „Es geht darum, die leeren Seiten im Angesicht des eigenen Scheiterns zu füllen.“

Darum bastelt er so lange an verschiedenen Fassungen herum, bis letztendlich die Geschichten entstehen, die so tief berühren. Denn das ist es, was er immer wieder zum Ausdruck bringt: Mensch sein im Angesicht seiner eigenen Verletzlichkeit. Es ist ein schmerzhafter, wie ebenso lehrreicher Selbstfindungsprozess, wovon seine Romane erzählen. Für Wells ist Schreiben intrinsisch. Einfach ein innerer Drang, Geschichten zu erzählen: „Schreiben bedeutet auch immer in einer anderen Welt zu sein. Eine Welt, in der die anderen nicht sind.“

Sie sind für ein selbstbestimmtes Sterben in Würde. Gehört die selbstbestimmte Entscheidung für die aktive Sterbehilfe dazu?

Lotte Ingrisch: Ich bin im Vorstand einer Gesellschaft für „Sterben in Würde“. Davon bin ich überzeugt. Ich glaube an ein Sterberecht. Doch das hat leider unsere Regierung unter Sebastian Kurz in seiner Angst vor dem Tod abgeschafft. Außerdem herrscht er durch die Angst. Die Angst ist sein Kapital. Durch die Angst steuert er die Menschen und kann regieren. 

Aber ich bin für die aktive Sterbehilfe und ich kann mich erinnern, als dieses Thema vor Jahrzehnten im Parlament diskutiert wurde. Ich war auch eingeladen zum Mitreden, brachte zwei Seiten mit Zitaten von 20 berühmten Nobelpreisträgern des 20. Jahrhunderts und übergab es der Ethikkommission, die dieses Treffen in die Wege geleitet hat. Daraufhin bekam ich Parlamentverbot. 

Es wurde regiert. Es wurde bestimmt. Selbstbestimmte Entscheidungen gab es nicht. 

"Die Geister von Toten sind bei uns aus- und eingegangen. "

Lotte Ingrisch
Wieso möchten Sie die Sterbehilfe für Sich persönlich?

Ich betrachte den Körper immer wieder als Gefängnis. Ich möchte ausbrechen. Mit den Worten Shakespeares „O schmölze doch dies allzu feste Fleisch“ möchte ich es immer wieder zum Schmelzen bringen. 

Zu den Persönlichkeitsrechten gehört ein Sterberecht. Und wo es verweigert wird, ist es ein Verbrechen.

Woran liegt es, dass in Österreich oder Deutschland die Sterbehilfe immer noch nicht akzeptiert und durchgeführt wird?

Durch die Angst vor dem Tod herrschen die Mächtigen, herrscht die Politik. Wenn Leute keine Angst vor dem Sterben haben, ist die Macht der Politik im Schwinden begriffen.

Was passiert danach, also wenn Sie tot sind?

Ich bin so oft – nicht freiwillig und nicht absichtlich – sondern immer wieder jahrzehntelang erwacht und konnte meinen Körper nicht bewegen. Ich war wie gelähmt. Bis ich dann zufällig entdeckt habe, dass es nichts anderes bedeutet, als dass sich der Geist vom Körper trennt. Und wie ich das gewusst habe lies ich diese Trennung zu. 

Ich spürte wie ich aufstieg aus dem Körper und gleichzeitig war das ganze Zimmer von einem Dröhnen erfüllt. Ein Wasserfall rauschte, Posaunen tobten und vor lauter Schreck bin ich nochmal zurückgefallen in den Körper und hab gesagt „Du blödes Arschloch, jetzt hast Du dir alles vermasselt!“

Aber nein, Gott sei Dank nicht. Ich bin nochmal aufgestiegen und das war die pure Seligkeit. Ich bin jauchzend vor Glück in die Sterne hineingeflogen, was man offenbar auch kann, wenn man erlöst ist. Wenn das Quant erlöst ist von seinen Teilchen und als Welle herumschwirren kann. Wir sind dann reine Photonen und das ist Licht. 

Wir verwandeln uns, wenn wir sterben, in Licht. Und Licht kann gleichzeitig überall sein. Licht kann sich teilen und bleibt in jedem seiner Teile ganz. Also, unsere Zukunft sind eigentlich Photonen.

"Ich war eine Übersetzerin großer Geister."

Lotte Ingrisch
Sterben ist ein intimer Prozess. Niemand weiß, was wirklich was mit uns passiert. Was glauben Sie?  

Das Leben verwandelt Geist in Materie. Der Tod verwandelt Materie in Geist oder in Licht. Es ist ein ganz einfacher Prozess. 

Wie möchten Sie bestattet werden?

Das ist mir vollkommen wurscht. Man kann mich in den Müll werfen. Mein Körper ist mir nichts wert. 

Wie kommunizieren Sie mit den Geistern oder den Toten?   

Ich öffne mich und höre sie als innere Stimme. Lautlos, aber eindeutig. Ich habe ein Buch geschrieben „Das Leben beginnt mit dem Tod“. Da habe ich folgendes gemacht: Unter Zwang habe ich mich jeden Abend an die damals elektrische Schreibmaschine gesetzt, habe eine Flasche Wein auf ex getrunken, dazu ungefähr 1/8 Schnaps. Dann habe ich die doppelte Dosis Schlaftabletten eingenommen und dann war meine linke Gehirnhälfte, die Ratio, praktisch im Koma. Und in der Rechten, der Emotio sind eingeschränkt alle großen Geister frei gewesen. Ich habe nicht gewusst, was ich schreibe. Es ist völlig automatisch geschehen. Den Sinn des Schreibens habe ich erst hinterher verstanden. 

Zu meinem Mann habe ich immer gesagt, ich lebe von diesem Diktat. Denn es war von einer Höhe, die der Mensch normalerweise nie erreicht und ich selbst hätte sie auch nie erreicht. Ich war eine Übersetzerin großer Geister. Was anderes war ich nicht. 

Wie gelingt es Ihnen sich den Geistern und Toten zu öffnen?  

Diese Öffnung gelingt mir nur dadurch, dass ich keine Angst habe. Ich habe mich nie vor Gespenstern gefürchtet. Ich war so an Gespenster gewöhnt und es ist mir entsetzlich abgegangen, wenn sie nicht mehr gekommen sind. Jetzt, zum Beispiel kommen sie nicht mehr. Seit ungefähr 20 Jahren kommen keine Gespenster mehr zu mir. 

Ich habe einen guten Freund und Theologieprofessor gefragt, warum ich nichts mehr erlebe. Keine Toten reden mehr mit mir, keine Gespenster kommen. 

Daraufhin erwiderte er „Lotte, du bist alt geworden. Es kostet dich jede Menge Energie mit einem anderen System zu kommunizieren. Die Energie hast du nicht mehr.“ Ganz genau. Diese Energie habe ich nicht mehr.

"Man kann mit Gespenstern in Kontakt treten."

Lotte Ingrisch
Sie schrieben in einer Mail an mich, dass sie bald als Gespenst herumspuken. Wie lebt es sich so als Gespenst? 

Ich habe schon lebendigen Leibes gespukt. Ich bin immer wieder erschienen und zwar an Orten, wo ich garantiert nicht war. Fremde Leute aus allen möglichen Ländern haben mich angerufen, und haben gesagt „Frau Ingrisch, sie stehen mitten in meinem Zimmer“. Ich war selbstverständlich nicht wirklich da. 

In dem Buch „Die doppelte Lotte“ habe ich ein S.O.S. an die Wissenschaft geschrieben: wie kann ein Mensch gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten auftauchen? Darauf haben mir dreizehn berühmte Wissenschaftler geantwortet, dass sich die Wirklichkeit beständig aufspaltet“. Und auch Helmut Rauch hat gesagt: „Ein Mensch kann jederzeit an verschiedenen Stellen des Raums und an verschiedenen Stellen der Zeit auftauchen.“ 

(Bücher: „Der Quantengott“ und „Die Quantengöttin“)

Kann man später mit ihnen als Gespenst in Kontakt treten? Haben Sie Tipps und Ratschläge?  

Lotte lacht. Natürlich habe ich das lustig gemeint. Aber ich habe Gespenster auch schon gesehen. Mein Mann und ich haben 25 Jahre lang auf einer eklatanten Störzone in einem Waldviertel gelebt. Dieser Raum war nicht homogen und man erlebt die Wirklichkeit an jeder Stelle des nicht homogenen Raums anders. 

Wir schützen uns mit einem biologischen Immunsystem. Aber offenbar haben wir auch ein psychologisches Immunsystem. Und an gewissen Stellen der Störzone funktioniert weder das biologische noch das psychologische System. Ich war immer ein gesunder Mensch, habe auf diesen Störzonen aber ein Dutzend schwere Grippen im Jahr gekriegt. Und gleichzeitig haben mein Mann und ich jede Menge Geister gesehen. Die Geister von Toten sind bei uns aus- und eingegangen. 

Wir haben geglaubt, das sind Einbrecher und haben sogar eine Gaspistole gekauft, um uns zur Wehr zu setzen. Dann habe ich aber Angst bekommen, dass ich unsere sechs Katzen womöglich damit verletze und habe die Pistole wieder zurückgetragen. Aber es waren keine Einbrecher Es waren Tote, die bei uns ein und ausgegangen sind.

Fünf Jahre nach ihrem Suizid hat eine Tote bei uns angerufen. Drei Jahre lang. Ich habe neben dem Telefon immer schon die Schnapsflasche stehen gehabt, immer war es so nach Mitternacht, als es anfing zu läuten… da hab ich dann einen Schluck genommen, bevor ich abgehoben habe. Die Tote hat mir alles geschildert, was sie erlebt hat und mein Mann und ich haben Detektiv gespielt und alles aufgeschrieben.

Man kann mit Gespenstern in Kontakt treten. Aber ich glaube der Kontakt geht eher von den Toten, als von den Lebenden aus.


Lotte Ingrisch (*20. Juli 1930 in Wien) ist eine österreichische Schriftstellerin. Als „Liebhaberin von Geistern und der Quantenphysik“ oder als „Reiseführerin ins Jenseits“ hat sie sich über österreichische Grenzen durch einen Namen gemacht. Eines ihrer bekanntesten Werke ist die Mysterienoper Jesu Hochzeit, deren Uraufführung 1980 zu einem Theaterskandal wurde. Ihre letzten Buchveröffentlichungen zusammen mit dem Physiker Helmut Rauch sind „Der Quantengott“ und „Die Quantengöttin“.

Im Jahr 2002 wurde ihr das österreichische Ehrenkreuz 1. Klasse für Wissenschaft und Kunst für ihre Forschung zu Sterben und Tod verliehen.

Literatur von und über Lotte Ingrisch findet ihr hier.

Sind die Bühnenshows für Dich manchmal ein Zufluchtsort vor der realen Welt?

"Ich habe das Gefühl ich bin in einer Masse von Menschen und ich bin so allein. Weil mich kennt keine Sau, aber jeder meint mich zu kennen."

Jan Ammann
Helfen Dir bestimmte Rituale in deinem Alltag oder vor deinen Auftritten?  

"Freundschaften dauern die Länge eines Vertrags."

Jan Ammann
Nervt Dich das ständige Netzwerken und die ganzen „Vitamin B-Kontakte“ in der Künstlerwelt, oder ist das der Preis, denn Du für deine Künstlerkarriere eben zahlen musst?

Jan Ammann (*1975 in Billerbeck) ist Musicaldarsteller. In Produktionen wie Jekyll & HydeRebeccaTarzan oder Dr. Schiwago verkörperte er die Hauptrolle, als der „Bariton, der immer stirbt“. Dafür wurde er u.a. mit zahlreichen Preisen als bester Darsteller ausgezeichnet . Nicht zuletzt durch seine immer wiederkehrenden Auftritte als Graf von Krolock in Tanz der Vampire hat er sich nicht nur in der Musicalwelt einen Namen gemacht. Zurzeit ist er mit unterschiedlichen Formaten wie The Greatest Show oder A Musical Love Story auf Tour.

Wie bereitest du dich auf die immer wiederkehrende Konfrontation mit dem Tod vor? Letztlich bist du ja oft „der Bariton, der immer stirbt“. 

"Der Tod ist ein gegenwärtiger Freund, den man noch nicht angeschaut hat."

Jan Ammann
Die meisten Erwachsenen haben in ihrem Leben noch nie einen Toten gesehen. Hast du schon mal einen toten Menschen gesehen?

"Fast alle Menschen haben ein Problem mit dem Loslassen. Das können wir nicht."

Jan Ammann
Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?  
Hast du Dir schon überlegt, wie du bestattet werden möchtest?  

"Der Tod ist nicht romantisch. Er ist einfach da."

Jan Ammann
Existieren wir in der realen Welt auch nach unserem Ableben noch weiter?  
Möchtest Du auf der Bühne auch Aufklärung gegen die Tabuisierung des Todes betreiben?  

"Graf von Krolock bedient sich an der Etikette des Menschen, damit er selber das Gefühl hat, wieder etwas Menschliches an sich zu haben."

Jan Ammann
Du spielst ja gerne Rollen mit Tiefgang. Ist das zum dem oberflächlichen Showbusiness nicht ein extremer Gegensatz?
Graf von Krolock in Tanz der Vampire hat es Dir besonders angetan. Du verkörperst diese Figur so oft wie sonst keine Rolle. Was fasziniert Dich besonders an Ihm?

Jan Ammann (*1975 in Billerbeck) ist Musicaldarsteller. In Produktionen wie Jekyll & HydeRebeccaTarzan oder Dr. Schiwago verkörperte er die Hauptrolle, als der „Bariton, der immer stirbt“. Dafür wurde er u.a. mit zahlreichen Preisen als bester Darsteller ausgezeichnet . Nicht zuletzt durch seine immer wiederkehrenden Auftritte als Graf von Krolock in Tanz der Vampire hat er sich nicht nur in der Musicalwelt einen Namen gemacht. Zurzeit ist er mit unterschiedlichen Formaten wie The Greatest Show oder A Musical Love Story auf Tour.

Dabei zeigt sich der Schauspieler von einer ganz nachdenklichen Seite: Er sprach über seine eigene Bestattung, warum er Hospizarbeit wichtig findet und was das alles mit seinem Film „Der Mann aus dem Eis“ zu tun hat.

Wikimedia Commons | Jürgen Vogel (Berlinale 2012) von Siebbi

„Das Sterben ist abgekapselt vom Leben“. Wie stark ist diese Aussage noch in der Gesellschaft verankert?

Das Ziel der Hospizbewegung war und ist es, dass Menschen dort sterben, wo sie möchten. Nach wie vor gehen Wunsch und Realität auseinander – viele Menschen sterben in Krankenhäusern. Es ist sicherlich so, dass sich in den letzten 20 Jahren viel getan hat. Stationäre Hospize, ambulante Hospizdienste und Palliativstationen sind entstanden und bestehende Strukturen haben sich weiterentwickelt.

In der Bevölkerung ist vielen Menschen der Begriff „Hospiz“ bekannt, wird häufig jedoch ausschließlich mit einer stationären Einrichtung verbunden. Auch im häuslichen Bereich ist sehr vieles möglich, durch spezielle Pflegedienste, Ärzte und ambulante Hospizdienste, wenn das soziale Umfeld es mittragen kann. Gerade in Hamburg gibt es 50% Singlehaushalte. Es besteht weiterhin ein großer Bedarf, die Bevölkerung zu informieren und zu sensibilisieren.

Wie bist du dazugekommen, dich in der Hospizarbeit zu engagieren?  

Eigentlich war es Zufall. Ich habe medizinische Fachangestellte gelernt und 20 Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Zehn Jahre davon in einer großen Allgemeinarztpraxis, in der wir viele schwerkranke und sterbenskranke Menschen betreut haben. In der damaligen Zeit sind wir immer wieder an Grenzen gestoßen, wenn im häuslichen Bereich die ärztliche Versorgung und die Unterstützung nicht mehr möglich waren. Es gab damals in der Umgebung keine stationären Hospize.

"Ich finde die Begegnung von Mensch zu Mensch einfach wichtig."

Astrid Karahan

Mein damaliger Chef plante ein Hospiz mit zwölf Betten aufzubauen und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, dabei mitzuwirken und das Haus mit zu leiten. Ich fand in der Praxis meistens einen guten Kontakt zu den Erkrankten und nahm die Herausforderung an. Das war 1997, das Hospiz eröffnete 1998.

Wie wurde das Hospiz aufgenommen? Gab es Bedarf?  

Dass ein Bedarf bestand, wussten wir aus den Erfahrungen in der Praxis. Wir mussten natürlich auch erstmal schauen, ob das Hospiz von der Bevölkerung, aber auch von den niedergelassenen Medizinern und den Krankenhäusern angenommen wird. Dazu war natürlich intensive Öffentlichkeitsarbeit erforderlich. Nach sechs Monaten waren wir bereits voll belegt. Es war von Anfang an eine unheimliche Befriedigung und das ist es heute noch: Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten und vor allem auch die An- und Zugehörigen zu unterstützen

Welche Aufgaben hast du im Hospiz übernommen, als es eröffnet wurde?  

Im Hospiz war ich die Einrichtungsleitung. Ich war für die Aufnahme der Gäste, Kontakt und Abrechnung mit den Leistungsträgern, Öffentlichkeitsarbeit und die Angehörigenbegleitung, zuständig aber auch für den Kontakt mit den Gästen vor und während des Aufenthaltes. Nach zwei Jahren habe ich dann angefangen, eine Gruppe von Ehrenamtlichen aufzubauen, denn dieses Angebot gab es noch nicht. Die Begegnung von Mensch zu Mensch hat eine andere Ebene und ist für die Erkrankten und die Angehörigen sehr wertvoll.

Worin unterscheidet sich das stationäre Hospiz vom Krankenhaus?  

Die Zielsetzung ist eine ganz andere. Im Krankenhaus stehen zunächst die Diagnostik und dann die Therapien, die auf Heilung ausgerichtet sind, im Vordergrund.

"In einem Hospiz spricht man von Gästen und nicht von Patienten."

Astrid Karahan

Im Hospiz geht es um die Begleitung des Menschen und seiner Angehörigen am Lebensende. Therapien dienen der Lebensqualität, wie z. B. Schmerztherapie und Behandlung von belastenden Symptomen. Der Tag wird speziell auf die Wünsche des Erkrankten ausgerichtet: Möchte jemand geweckt werden und wann möchte er frühstücken? Im Mittelpunkt steht immer der Erkrankte mit seinen Angehörigen.

Würdest du sagen, dass du das Leben durch deine Arbeit mehr zu schätzen gelernt hast?  

Jeder weiß eigentlich, dass es zwei Fixpunkte im Leben gibt: Geburt und Tod. Und es gelingt jedem Menschen, das zwischenzeitlich auszublenden. Natürlich ist auch für mich der Tod nicht jeden Tag präsent und das ist auch gut so. Aber über viele Dinge habe ich gelernt, mir Gedanken zu machen: Nach Kraftquellen zu suchen und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.

Wie hat dein Umfeld auf deine Arbeit reagiert?  

Natürlich hatte und hat diese Arbeit Einfluss auf die Familie. Meine Großmutter war damals sehr irritiert, als ich ins Hospiz gewechselt bin. Sie konnte gar nicht begreifen, wie ich meine damalige Arbeit aufgeben und in so ein „Sterbehaus“ gehen konnte. Das Thema war zu der Zeit deutlich weniger bekannt als heute. Im Nachhinein war sie aber von der Hospizarbeit total begeistert. Meine Töchter sind mit dem Thema Sterben und Tod aufgewachsen und gehen dadurch sehr offen damit um.

"Viel geht über das Bauchgefühl, wer z.B. als Begleitung."

Astrid Karahan
Du bist im Hospiz-Zentrum Bruder Gerhard stellvertretende Leitung und koordinierst die Ehrenamtlichen. Nach welchen Kriterien entscheidest du, welcher Ehrenamtliche welchen Sterbenden begleitet?

Zum einen haben wir im Team den großen Vorteil, die Ehrenamtlichen selbst zu schulen und gut kennenzulernen. Der erste Kontakt zu den Erkrankten wird von den Hauptamtlichen gemacht, um zu schauen, was der betroffene Mensch und sein soziales Umfeld benötigen. Oft merke ich schon während des Gesprächs, wer von den Ehrenamtlichen passen könnte. Manchmal braucht es einen Schmerztherapeuten, einen Hausarzt, oder auch Pflegedienst, aber manchmal braucht es einen Ehrenamtlichen, der ein Gespür für die jeweilige Situation mitbringt: Dann wird ein Gespräch gewünscht oder einfach Zeit, die mit dem Erkrankten verbracht wird, oder auch zur Entlastung der Angehörigen.

Was macht für dich deine Arbeit so bedeutsam?  

Das Leben ist endlich und das Sterben und der Tod sind nicht immer leicht. Aber es ist toll, wenn ich durch meine Beratung und Organisation von Unterstützung einiges leichter machen oder ermöglichen kann.


Astrid Karahan arbeitet seit fast 20 Jahren in der Hospizarbeit. Die medizinische und palliative Fachkraft koordiniert im Malteser Hospiz-Zentrum Bruder Gerhard in Volksdorf 150 ehrenamtliche Mitarbeiter.

Täglich pendelt sie zwischen Lüneburg und Volksdorf zur Arbeit. Den weiten Weg nutzt sie am liebsten zum Lesen.

In dem Podcast von NDR Info „Im Anfang war das Wort. Die Bibel“ spricht sie über die Bedeutung der Emmausgeschichte in der Ausbildung zur Sterbebegleitung.

Du hast drei Jahre an dem Comic „Sterben ist echt das Letzte“ gearbeitet. Welche Wirkung hatte das auf dich?

Es hat für mich etwas Therapeutisches. Ich habe große Angst vor dem Tod, vor Leichen oder davor, dass Freunde oder Bekannte sterben. Diese ganzen Ängste sind durch die Arbeit an meinem Comic besser geworden, weil ich mich mit dem Thema auseinandergesetzt habe.

Woher kommt dein Interesse, den Tod und das Sterben in deiner Bachelorarbeit aufzugreifen?  

Es gibt ein Zitat von Andy Warhol, dass alles was er macht, mit dem Tod zu tun hat. Mir ist  aufgefallen, dass es bei mir auch so ist. In jedem Buch und in jeder Geschichte kommt der Tod vor. Das ist eine Art Obsession. Erst dachte ich, ich wäre morbide, aber das stimmt nicht. Es ist einfach interessant. Und bei so einem dicken Buch brauche ich ein Thema, das mich wirklich interessiert, sonst mache ich das nicht.

Aber ich glaube, ich habe mich schon immer zu solchen Themen hingezogen gefühlt. Auch als Sozialpädagogin habe ich keine fröhliche Arbeit gemacht. Ich habe in Hamburg mit Strichern am Hauptbahnhof gearbeitet. Für junge Männer in St. Georg, die sich prostituieren. Auch da gab es schon eine gewisse Richtung für mich.

Du hast vorher Sozialpädagogik studiert. Wie bist du zum Zeichnen und Illustrieren gekommen?  

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Mit Kunst oder Zeichnungen sein Geld zu verdienen, war nie ein Thema bei uns. Deswegen habe ich es auch nie als Möglichkeit gesehen. Ich bin aber während meiner Arbeit als Sozialpädagogin nach Rumänien gegangen und habe dort gearbeitet. Am Anfang war ich sehr viel alleine unterwegs. Da habe ich wieder angefangen, zu zeichnen. Das war mein Rückzugsort. Daheim in Deutschland haben dann immer mehr Leute zu mir gesagt: „Mach das in eine Mappe und gib das ab!“.

Die Eignungsprüfung habe ich bestanden, obwohl ich nur meinen Wasserfarbkasten dabei hatte. Ich habe das Studium dann angefangen, bin da irgendwie reingerutscht. Und dann war das viel besser als alles, was ich vorher gemacht habe.

Oft schreiben Autoren über sich, benutzen aber eine fiktive Person. Du bist in all deinen Werken Protagonistin. Warum?

Ich erfinde oft Geschichten, die ich gar nicht erlebt habe und benutze mich einfach als Figur. Ich würde das erweiterte Autobiografie nennen. Das fällt mir leichter. Ich arbeite viel mit Fotos, die ich von mir selber mache und zeichne. Es ist ein leichter Zugang zu mir. So kann ich besser erzählen, weil ich mich selbst am besten kenne.

Wie ist die Resonanz auf deinen Comic?  

Leute sprechen mich an, weil sie sich in manchen Geschichten wiederfinden und sich freuen, dass jemand über den Tod redet. Ganz viele fangen auch mit mir an, über den Tod zu reden, obwohl sie mich gar nicht kennen. Ich glaube, das liegt daran, dass mein Buch nicht nur mystifiziert und melancholisch ist, sondern auch witzig und ehrlich. Dass man auch sagt: „Ich hab Schiss davor“, und damit umgeht. Deswegen ist die Resonanz auch durchweg positiv.

Möchtest du mit deiner Arbeit Tabuthemen in der Gesellschaft ansprechen?  

Das weiß ich nicht. Ich mache das, was mich interessiert. Am liebsten schaue ich düstere Filme. Und wenn ich zeichne, schaue ich die ganze Zeit Dokumentationen über Serienmörder. Völlig Banane. Aber tatsächlich entspannt mich das. Ich neige eher zu brutalen und düsteren Themen, die fesseln mich mehr. Aber ich bin überhaupt nicht brutal. Und das hat auch gar nichts damit zu tun, dass man morbide ist. Für mich ist es einfach spannender, gruselige Sachen anzuschauen und zu zeichnen.

Warum ziehst du Bücher einem digitalen Medium vor?  

Bücher schaffen eine andere Atmosphäre als etwas Digitales. Es ist mir schon wichtig, dass es etwas zum Anfassen und Mitnehmen ist. Ich zeichne alles von Hand und färbe es dann mit Photoshop ein. Da bin ich vielleicht ein bisschen oldschool, aber ich liebe das Zeichnen. Es tut mir einfach gut.

Du hast dich über die dreijährige Arbeit an dem Buch ständig mit Sterben und Tod auseinandergesetzt. Wie möchtest du denn sterben und bestattet werden?

Eigentlich will ich gar nicht sterben, das fände ich am tollsten. Aber das geht halt nicht. Deswegen habe ich mich an den Gedanken gewöhnt. Am liebsten würde ich ganz alt einschlafen. Ich finde alt werden geil!

Ich will nicht verbrannt werden. Das finde ich brutal. Der Körper ist ja organisch, den legt man hin und dann verschwindet er von selbst. Deswegen würde ich am liebsten in ein Tuch gewickelt und in die Erde gelassen werden. Das gibt ja auch den ganzen Pflanzen und der Erde viel zurück. Das finde ich viel logischer. Außerdem möchte ich einen Ort haben, wo meine Freunde und Verwandte hingehen können. Ich finde Friedhofskultur sehr schön. Viele schreckt das ab, aber ich gehe total gerne auf Friedhöfe.

Und die Bestattungsfeier sollen die Menschen planen, wie es für sie gut ist. Ich finde es ganz befremdlich, wenn von den Verstorbenen die Trauerfeier organisiert wird, aber die Trauergemeinde damit nichts anfangen kann. Das will ich niemandem aufzwingen.

Wie gehen die Leute damit um, dass du so offen über den Tod zeichnest und sprichst?

Ich habe den Eindruck, dass die Leute mir krasse Geheimnisse verraten. Die sind erleichtert, dass sie jemandem erzählen können, dass sie Angst davor haben zu sterben oder wie sie sich den Tod vorstellen. Der Bedarf, darüber zu reden, ist auf jeden Fall da.

Außerdem entwerfe ich auch Beileidskarten. Da steht dann nicht „Herzliches Beileid“, sondern ehrliche Dinge wie „Ich habe gerade keine Worte dafür. Es tut mir leid.“ Da kann ich dann auch als Zeichnerin oder Designerin etwas verändern, denn solche Karten gibt es noch gar nicht. Es muss doch nicht auf jeder Karte eine Taube oder ein fallendes Blatt sein. Das sind doch einfach Klischees.

Was ist denn dein nächstes großes Projekt?  

Das ist noch nicht ganz klar, aber es geht um das Thema Arbeit. Wie man Geld verdient und die Arbeitsstrukturen in der Welt funktionieren. Gleichzeitig aber auch welchen Zwängen man ausgesetzt ist.


Eva Müller kommt aus dem Saarland. An der FH Koblenz hat sie Sozialarbeit studiert und nach ihrem Diplom in Hamburg als Sozialpädagogin gearbeitet. Ihren zweiten Bachelor in Illustration an der HAW hat sie 2017 abgeschlossen. Seitdem ist sie selbstständige Illustratorin und leitet Comic- und Zeichenworkshops. „Sterben ist echt das Letzte“ ist ihr Comic-Debüt.

Der Comic „Sterben ist echt das Letzte“ ist im Schwarzer Turm Verlag erschienen und für 12 Euro erhältlich.

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