Wir verdrängen gerne das Sterben und den Tod. Erst ist eure Mutter, dann euer Vater gestorben. Eine absolute Extremsituation. Wie habt ihr es geschafft, nach dem Tod eurer Eltern zurück ins Leben zu finden, wenn sich vorher eure ganze Realität auf das Sterben konzentriert hat?

Seit unserer Geburt werden wir mit den Themen Krankheit und Endlichkeit konfrontiert. Papa musste sich bereits in Isabels Kindesalter seiner ersten Krebserkrankung stellen – aus diesem Grund liegen auch 6 Jahre zwischen uns.

Leider hat der große Altersunterschied dazu geführt, dass wir uns früher überhaupt nicht verstanden haben – wir waren wie Feuer und Wasser. Zum Glück wird man mit den Jahren nicht nur älter, sondern tatsächlich auch weiser. Heute sind wir froh, einander zu haben und verbringen gerne Zeit miteinander. Man hat immer zwei Möglichkeiten, wenn man Leid erfährt: an dem Trauma zu Grunde zu gehen oder sich weiterzuentwickeln.

Jede Diagnose unserer Eltern hat uns im Laufe der Jahre immer wieder erneut den Boden unter den Füßen weggerissen. An diese Zeit werden wir uns unser ganzes Leben lang erinnern. Die Fassungslosigkeit, das Hoffen auf ein Wunder, die lähmende Angst, aber auch die Gewissheit, unseren Eltern immer beigestanden und ihre Wünsche respektiert zu haben, auch über ihren Tod hinaus. Durch unsere Nähe zu den Niederlanden hatten wir ganz andere Möglichkeiten. Ein Teil der Asche verweilt jetzt in einem Armband. Es zeigt uns, dass sie immer an unserer Seite sind.

"Erinnerungen sind das Wertvollste, was uns von unseren Eltern bleibt."

Isabel und Corinna Krücker
Habt ihr teilweise nur noch „funktioniert“?

„Funktioniert“ ist hier genau das richtige Wort. Leider bleibt die Welt nicht stehen, sondern dreht sich einfach weiter. Plötzlich standen wir vor der schwierigen Aufgabe, uns gemeinsam um die Hinterlassenschaften zu kümmern, alle Freunde und Bekannte anzurufen und die Einäscherung zu organisieren. All das, was Papa damals bei Mamas Tod übernommen hatte. Wir waren oft wie betäubt. Anfangs konnten wir einfach nicht glauben, was passiert ist. Grundlegendes wie essen, trinken und schlafen fiel uns schwer. Gleichzeitig mussten wir unser Elternhaus verkaufen und so viel Bürokratisches erledigen – das kann überfordern. Deshalb war es für uns am Wichtigsten, dass uns jemand im Alltag unterstützt. Für Trauer bleibt oft gar nicht richtig Zeit. Darum geht es: das eigene Überleben erstmal sichern.

Wie ist euer Umfeld damit umgegangen?

Wir sind sehr froh darüber, dass wir beide Partner haben, die in dieser Zeit viele Dinge für uns in die Hand genommen haben und immer für uns da sind.

Allerdings haben wir auch gemerkt, dass manche Leute um uns herum nicht automatisch auf sensibel umstellen. Viele sprechen die Situation nicht an, weil sie selbst Angst haben, etwas falsch zu machen. Aber man hilft „uns Hinterbliebenen“ nicht, indem man über den Verlust schweigt. Keiner kann uns unseren Schmerz nehmen. Aber dabei sein und bleiben, während wir ihn tragen, schon. Nichts kann unsere Eltern zurückbringen, aber unsere Trauer ist kein Problem, das man lösen muss.

Die Eltern von Isabel und Corinna Krücker auf Rügen
Als Kind sind die Eltern unsere größten Vorbilder. Unsere Eltern können alles, wissen auf alles eine Antwort – sind eigentlich unsterblich. Wie hat sich eure Sicht auf das Leben verändert, als ihr von der Diagnose eurer Mutter erfahren habt?

Bereits als Kinder mussten wir mit zunehmendem Krankheitsverlauf feststellen, dass sich immer mehr Menschen aus dem Leben unserer Eltern verabschiedeten – nicht nur Freunde und Bekannte, sondern auch die eigene Familie. Dadurch konnten wir aber auch früh lernen, dass es nicht auf die Menge an Menschen um uns herum ankommt, sondern auf die richtigen. 

Man sollte meinen, dass man mit einer Krebserkrankung schon gestraft genug wäre, aber es werden einem noch so viele Steine mehr in den Weg gelegt: Unsere Eltern mussten sich regelmäßig mit der Krankenkasse streiten, z.B. über Fahrtkosten. Das Argument: als kranke Chemopatient*in hat man genug Zeit die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen.

Für Mama war es sehr schwer, dass auch ihre eigenen Eltern nur noch für Anstandsbesuche kamen. Sie hat sehr oft geweint und sich gewünscht, nochmal von ihnen in den Arm genommen zu werden. Leider sollte es dazu nicht mehr kommen. Nach ihrem Tod haben sich unsere Großeltern noch nicht einmal nach der Bestattung erkundigt. 

Die Zeit nach ihrem Tod war schlimm, nicht nur für uns, sondern natürlich auch für unseren Papa. Ihn so traurig und hilflos zu sehen, brach uns das Herz. Ihre Ehe war bei Weitem nicht perfekt, aber mit unserer Mama starb noch so viel mehr: seine Ehefrau, große Liebe und beste Freundin. Unser Verhältnis hat sich dadurch verändert und auch teilweise umgedreht. Wir haben weiterhin versucht, ihn so viel wie möglich zu unterstützen. Wir waren füreinander da, haben uns an früher erinnert: „Eine Mama kann vieles ersetzen – aber niemand kann eine Mama ersetzen.“

"Unsere Trauer ist kein Problem, das man lösen muss."

Isabel und Corinna Krücker
Was sind die berührendsten Momente, die ihr mit euren Eltern erlebt habt?

Wir haben unglaublich tolle Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit unseren Eltern: Mama, die immer da war, wenn wir aus der Schule nach Hause kamen. Papa, der mit Begeisterung Musik aufnahm und wir somit immer die aktuellsten Kassetten für unseren Walkman hatten. Die gemeinsamen Urlaube auf Gran Canaria. Der Roadtrip durch den Westen der USA, den wir gerne noch zu viert gemacht hätten. Es sind einfach alle Geburtstage, Feste, Spieleabende und auch die kleinen Momente im Alltag, die wir zusammen erlebt haben.

Aber in der ersten Zeit waren all diese Erinnerungen unheimlich schmerzhaft. Eine bestimmte Situation, ein Lied im Radio, ein altes Foto – alles erinnerte uns an unsere Eltern und die traurige Tatsache, dass sie nie wieder da sein werden. Irgendwann kommt jedoch der Zeitpunkt, an dem der Schmerz einer Wehmut weicht und man erkennt: Erinnerungen sind das Wertvollste, was uns von unseren Eltern bleibt.

Was vermisst ihr am meisten?

Am meisten vermissen wir, dass wir nie wieder über alles Mögliche mit den beiden sprechen und lachen können. Selbst die Kämpfe, die wir ausgetragen haben, weil wir alle einfach verdammte Dickköpfe waren. Wir können ihnen nichts mehr erzählen oder sie umarmen. Oft denken wir daran, was sie zu bestimmten Dingen gesagt oder worüber sie sich gefreut hätten. Es macht uns traurig, dass Mama und Papa so viele wichtige Momente in unserem Leben nicht mehr miterleben können.

"Sterben geht jeden etwas an."

Isabel und Corinna Krücker
Wie hat sich eurer Leben seit dem Tod eurer Eltern verändert?

Nach dem Tod unserer Eltern war es für uns unbegreiflich, dass die meisten Dinge einfach weiterlaufen wie zuvor. Wenn die eigenen Eltern sterben, ist das ein Schock, der ein riesiges Loch hinterlässt. Ganz egal, wie alt man ist, der Abschied kommt immer viel zu früh. 

Lange Zeit haben wir unser eigenes Leben zurückgestellt und waren in einer Habachtstellung. Wir haben unsere Eltern gepflegt und mitbekommen, wie sie langsam aber sicher immer hilfloser wurden. Plötzlich vertauschten sich die Rollen. Das war eine enorme psychische Belastung. Jetzt müssen wir uns keine Sorgen mehr um die die beiden machen.

Wir wissen das Leben heute mehr zu schätzen und erkennen, wie wertvoll es ist, gesund zu sein. Wir akzeptieren, dass Veränderungen zum Leben dazugehören, auch wenn wir auf einige lieber verzichtet hätten. Aus dieser Erfahrung heraus entstand bei uns das dringende Bedürfnis für das Recht auf einen selbstbestimmten Tod zu kämpfen. Damit niemand mehr so sterben muss wie unsere Eltern, denen wir unsere Petition gewidmet haben. Darauf wären sie bestimmt sehr stolz.

„You never know how strong you are until being strong is the only choice you have.“

Die Familie Krücker
Werdet ihr oft mit Floskeln wie „Zeit heilt alle Wunden“, „ihr seid ja noch jung“ konfrontiert? Wie geht ihr damit um?

Trauer dauert nicht nur ein paar Wochen, Monate oder Jahre und ist dann vorbei. Sie hört nie auf, aber man lernt damit zu leben.

Es ist schade, dass das Sterben und der Tod in unserer Gesellschaft oft noch Tabuthemen sind, mit denen man sich lieber nicht auseinandersetzen möchte. Das führt dazu, dass wir nicht nur mit unserem eigenen, oft ambivalenten Gefühlschaos zurechtkommen, sondern uns auch noch darum Gedanken machen müssen, dass manche Bemerkungen nichts mit unserer Trauer zu tun haben, da Außenstehende sich nur schwer in die Situation hineinversetzen können. Solche Äußerungen sind für die Trauerarbeit nicht hilfreich und setzen uns noch zusätzlich unter Druck.

Ihr sagt selbst, dass ein Morphium-Tropf und die Option des Sterbefastens kein menschenwürdiges Ende bedeuten. Zumindest nicht für jeden Menschen. Viele Ärzt*innen und Politiker*innen halten dagegen. Wieso?

Unsere Eltern gehörten leider zu denjenigen, die zu früh gehen mussten und dabei einen langsamen Tod fanden. Papa hatte explizit darum gebeten, zu Mama gehen zu dürfen. Es war nur noch eine Zumutung für ihn. Er hat quasi nur noch auf seinen letzten Atemzug gewartet. Am 1. Januar 2021 verstarb er im Hospiz. Der größte Respekt gilt unseren Pflegekräften, die in unserem kaputt gesparten, kranken System bei minimalem Hungerlohn und maximaler Belastung, oftmals mit einem Bein im Knast stehend, dennoch jeden Tag zur Arbeit gehen, wobei sie gar nicht in der Lage sind, jedem Patienten gerecht werden zu können. Deshalb und weil wir ihn nicht allein lassen wollten, saßen wir abwechselnd Tag und Nacht bei ihm, bis er seine Augen für immer schloss.

Bereits zwei Mal in seinem Leben hatte unser Papa den Krebs besiegt. Beim dritten Mal hat er einfach keine Kraft mehr gehabt. Erst ein paar Jahre zuvor hatten wir alle mit Mamas Rezidiv gekämpft und verloren. Mit seiner Ehefrau war auch für Papa jeglicher Kampfgeist gestorben. Zuletzt war er kaum mehr ansprechbar. Aufgrund der Metastasen in seinem Körper hat er zum Schluss noch nicht einmal mehr seine Arme bewegen, geschweige denn den Notrufknopf drücken können. Solange er noch sprechen konnte, hat er wiederholt gesagt, dass er nicht mehr leben wolle. Er hat Mama in ihren letzten Tagen begleitet und ahnte daher, was ihm bevorstand.

Das Bundesverfassungsgericht hat Anfang 2020 ein seit 2015 bestehendes Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gekippt, da es das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben verletze. Grundsätzlich hat demnach jeder Mensch die Freiheit, sich das Leben zu nehmen und hierfür auch Hilfe durch Dritte in Anspruch zu nehmen!

Theoretisch wäre eine professionelle Sterbehilfe also bereits möglich, aber praktisch noch nicht umsetzbar. Das Verbot der ärztlichen Sterbehilfe wurde zwischenzeitlich am 5. Mai 2021 aufgehoben. Schwerkranke haben eigentlich bereits seit 2017 Anspruch auf ein Medikament, welches ihr Leiden und Leben beendet, aber ihre Anträge werden nicht bearbeitet. Also bleibt nur die Möglichkeit einer passiven Sterbehilfe durch Unterlassung lebenserhaltender Maßnahmen und indirekten Sterbehilfe durch Schmerzmedikation. Wenn ein Patient schon so abgeschossen werden darf, dass er nichts mehr mitbekommt – wieso darf man ihn dann nicht erlösen?

"Selbstbestimmtes Sterben ist kein Privileg, sondern ein Grundrecht."

Isabel und Corinna Krücker

Jeder kann von heute auf morgen krank werden und in die Situation kommen. Dann sollte man wissen, dass man diese Möglichkeit hat, statt zuerst noch an einer verpflichtenden Beratung zu der Verabreichung eines letalen Medikaments teilnehmen zu müssen, die mindestens 10 Tage und höchstens 8 Wochen vorher erfolgen soll, wie es im ersten Gesetzesentwurf geschrieben steht. Ein Zeitrahmen, der unseren Eltern nicht geholfen hätte. Ganz zu schweigen davon, dass Selbstbestimmung und Rechtfertigung nicht miteinander vereinbar sind. Diese Maßnahme ist ein Schlag ins Gesicht für viele Betroffene und ein Zeichen dafür, dass erneut völlig unzureichende realitätsferne Maßnahmen besprochen werden.

Die Würde des Menschen ist unantastbar! Ein Leben darf nicht um jeden Preis gelebt werden müssen, wenn der Mensch selbst das gar nicht mehr kann oder will. Menschen dürfen nicht weiter gegen ihren Willen gequält werden, weil überholte Gesetze einen würdigen Abschied verhindern. Jeder Mensch hängt am Leben und viele klammern sich an den letzten verbleibenden Strohhalm. Es ist doch nicht so, dass bei einem Rechtsanspruch auf professionelle Sterbehilfe gleich das große Massensterben beginnt. Aber allein die Option dazu nimmt eine große Last. Tieren erspart man einen qualvollen Tod durch Einschläfern ohne irgendwelche Diskussionen. Aber den Menschen nicht? 

Unser Papa ist mit Sicherheit kein Einzelfall. Wer darf Menschen mit einer solchen Hintergrundgeschichte ihren Wunsch auf selbstbestimmtes Sterben verwehren? Jeder Politiker sollte ein Praktikum im Hospiz oder Krankenhaus absolvieren, um nur annähernd zu verstehen, was die Betroffenen und ihre Angehörigen durchmachen. Offensichtlich fehlt einigen hier das entsprechende Einfühlungsvermögen.

Laut YouGov befürworten 70% die aktive Sterbehilfe in Deutschland. Ihr habt eine Petition gestartet, wollt damit bis zum Bundestag. Wie kann aktive Sterbehilfe in Deutschland gelingen?

Wir haben die Petition gestartet, weil es keinem zusteht, darüber zu urteilen, wann ein Mensch sein Leben nicht mehr als lebenswert empfinden darf. Selbstbestimmtes Sterben ist ein Grundrecht und kein Privileg, worüber ein anderer entscheiden kann. Es sollte selbstverständlich sein, dass das individuelle Selbstbestimmungsrecht am Lebensende respektiert wird. 

Die derzeit unübersichtliche rechtliche Situation bei der Sterbehilfe führt zu Verwirrung und Unsicherheit. Dabei ist das Thema ohnehin schon schwierig genug.

Wir haben in unserem Petitionstext das Wort „aktiv“ durch „professionell“ ersetzt. Der Grund hierfür war nicht, dass wir aktive Sterbehilfe nun doch ablehnen, jedoch sollte sie ausschließlich im absoluten Härtefall Anwendung finden. Behält der Sterbewillige die Tatherrschaft bspw. nach dem Schweizer Vorbild, handelt es sich um (ärztlich) assistierten Suizid. Die sprachlichen Feinheiten in der Abgrenzung waren auch uns vorher so nicht bekannt. Es ging uns lediglich um die Formulierung und nicht um eine inhaltliche Änderung.

Wir fordern weiterhin eine neue gesetzliche Regelung für die professionelle Sterbehilfe, die das individuelle Selbstbestimmungsrecht am Lebensende garantiert. Wenn wir schon damals nicht gefragt wurden, ob wir leben wollen, so sollte man doch zumindest über das eigene Lebensende bestimmen dürfen, wenn triftige Gründe dafür eingetreten sind.

Die meisten Menschen haben keine Angst vor dem Tod, sondern vor dem Sterben. Sie wollen gar nicht so schnell wie möglich gehen, sondern so lange wie möglich menschenwürdig leben. Für viele wäre es daher sehr beruhigend nur zu wissen, dass es einen Notausgang gibt. Die Gewissheit, das Lebensende selbstbestimmt in professioneller Sterbebegleitung einleiten zu können, gibt Sicherheit und führt zu mehr Lebensqualität.

"Jeder Politiker sollte ein Praktikum im Hospiz absolvieren. […] Offensichtlich fehlt einigen hier das entsprechende Einfühlungsvermögen."

Isabel und Corinna Krücker

Voraussetzungen einer professionellen Sterbebegleitung aus unserer Sicht:

Weitere notwendige Bedingungen aus unserer Sicht:

Hier gehts zu unserer Petition ↠

Was möchtet ihr unbedingt den Menschen mitgeben, die sagen „mit Sterben und Tod möchte ich mich gar nicht befassen“?

Sterben geht jeden etwas an, denn wir alle müssen irgendwann diese Welt verlassen – manche früher, andere später. Man sollte sich früh genug dessen bewusst sein und damit befassen, solange man noch kann. Sichert euch ab, um euretwillen!

Man kann sein Leben bis zum Sterben nur dann genießen, wenn man weiß, dass auch das Ende selbstbestimmt sein kann. Es ist längst überfällig, die Entscheidung dem zu überlassen, der betroffen ist. Der Tod ist unausweichlich und wie jeder sein Leben gestalten darf, so sollte man auch sein Ableben im Einklang mit sich selbst bestimmen dürfen. 

"Menschen dürfen nicht weiter gegen ihren Willen gequält werden, weil überholte Gesetze einen würdigen Abschied verhindern."

Isabel und Corinna Krücker

Die letzte Veranstaltung vor dem Lockdown im Stadttheater Regensburg war die Auftaktveranstaltung von Regensburg liest ein Buch mit Benedict Wells. Übrigens: In der Zwischenzeit erhielt der Verein den Kulturförderpreis der Stadt Regensburg. (Die Preisverleihung findet am 17. November statt.) Jetzt, Ende September, hat Wells Regensburg einen erneuten Besuch abgestattet, um aus „Die Wahrheit über das Lügen“ vorzulesen.

Lesung von Benedict Wells
Benedict Wells im Gespräch. Fotograf: Mike Koob

Wahrheit und Lügen

Benedict Wells gab in seiner Lesung vor allem tiefe Einblicke in seine Gefühlswelt. Es erstaunt nicht, dass er mit seinem Bestseller „Vom Ende der Einsamkeit“ ein schweres Gewicht getragen hat. „Man kommt an seine Grenzen. Wenn meine Freunde abends ins Bett gingen, habe ich meistens bis 5 Uhr morgens geschrieben. Jahrelang.“ Sieben Jahre hat Wells an dem Roman gesessen, neue Fassungen geschrieben und alte wieder verworfen. Einen Teil davon haben Platz in „Die Wahrheit über das Lügen“ gefunden, aus dem er vor einem kleinen Publikum vorgelesen hat.

So auch „Die Entstehung der Angst“, in dem es um die Beziehung zwischen Protagonist Jules und seinem Vater geht. Und obwohl es bei Wells immer sehr in die Tiefe geht, wird hier nur ein sehr unscharfes Beziehungsgeflecht abgebildet, um möglichst viel Freiraum für die eigene Interpretation zu lassen. Allem Anschein nach erschien es Wells zu einfach, anhand alter Tagebucheinträge die erleuchtende Erklärung für das schwierige Verhältnis zu liefern. Ganz bewusst ließ er Lücken, um den Lesern die Freiheit zu geben, sich selbst einen zweiten Handlungsstrang dazuzudenken.

"Die leeren Seiten füllen im Angesicht des eigenen Scheiterns. - Schreiben ist intrinsisch."

Benedict Wells

Für Wells ist es wesentlich einfacher Kurzgeschichten zu schreiben. Man setzt emotional nicht all-in wie bei einem Roman. „Das Interessante ist aber eigentlich das nicht schreiben vorher.“ Denn da hat er die ganze Geschichte schon im Kopf, die Handlung, die Charaktere oder irgendwelche lustigen Situationen. Aber, wenn es dann schwarz auf weiß geschrieben steht, ist es oft eine Enttäuschung, zwinkert Wells. „Es geht darum, die leeren Seiten im Angesicht des eigenen Scheiterns zu füllen.“

Darum bastelt er so lange an verschiedenen Fassungen herum, bis letztendlich die Geschichten entstehen, die so tief berühren. Denn das ist es, was er immer wieder zum Ausdruck bringt: Mensch sein im Angesicht seiner eigenen Verletzlichkeit. Es ist ein schmerzhafter, wie ebenso lehrreicher Selbstfindungsprozess, wovon seine Romane erzählen. Für Wells ist Schreiben intrinsisch. Einfach ein innerer Drang, Geschichten zu erzählen: „Schreiben bedeutet auch immer in einer anderen Welt zu sein. Eine Welt, in der die anderen nicht sind.“

Um sich der Antwort auf die Frage nach der Darstellbarkeit des Todes nähern zu können, muss erst einmal differenziert werden, von welchen Körpern wir sprechen und auf welche Tode wir uns beziehen. Tote sind nicht gleich Tote. 

Das Begaffen und Aufzeichnen eines Verkehrsunfalls mit Todesfolge wird anders wahrgenommen und bewertet als das Foto eines Kriegsschauplatzes oder das Bild eines Greises im Sarg. Diese verschiedenen Szenarien erzeugen bei uns unterschiedliche Emotionen und würden voneinander abweichende Resultate erzielen. Um sich einem Teilbereich intensiv nähern zu können, liegt der Fokus in diesem Beitrag auf der Darstellung des natürlichen Todes bzw. auf den durch Krankheit hervorgerufenen Tod, welcher zum Bildmotiv avanciert.

Die Anfänge der Postmortem-Fotografie

Wir leben in einer Zeit, in der wir täglich Fotos bzw. Bilder im weitesten Sinne konsumieren, produzieren und verbreiten. Werbung beispielsweise wird ausschließlich oder weitestgehend visuell gestaltet. Mit unserem Smartphone dokumentieren wir unseren Alltag und besondere Ereignisse bzw. Erlebnisse und posten die Fotos in sozialen Netzwerken. Kurz: Fotografien sind allgegenwärtig und  prägen unsere Lebenswelt. Dies war jedoch nicht immer so: In den Anfängen der Fotografie, also in der Zeit ab 1839, war der Akt des Fotografierens etwas Besonderes und mit großem Aufwand verbunden. Die Belichtungszeiten des Bildes betrugen einige Minuten und Apparate waren teuer, sodass es dem neuen Beruf des Fotografen vorbehalten war, zu portraitieren und bildliche Erinnerungen festzuhalten. 

Zu dieser Zeit entwickelte sich auch das Phänomen der Postmortem-Fotografie, in der Verstorbene auf Wunsch ihrer Angehörigen in Fotostudios transportiert wurden, um dort schlafend oder (für uns befremdlich) verlebendigt fotografiert werden zu können.  

Nach einem Verbot in den 1870er Jahren, das sich auf den Transport von Leichen und damit einhergehenden hygienischen Überlegungen bezog, verlagerte sich die Postmortem-Fotografie von einer wirtschaftlichen Einnahmequelle für Fotografen in den privaten Raum. Das Bild des Verstorbenen erweckte zur der Zeit jedoch keine ethischen oder ästhetischen Bedenken, denn es war, begründet durch das sehr junge Medium, oft das einzige Foto, das es von der Person gab.

Die Einstellung zum Tod im Wandel der Zeit

Darüberhinaus war der Umgang mit dem Tod im 19. Jahrhundert ein ganz anderer: Durch schlechte hygienische Bedingungen, Epidemien und eine hohe Kindersterblichkeit war die Lebensdauer der Menschen geringer und der Tod Teil des Lebens bzw. regelmäßiger Begleiter. Sterbe- und Trauerprozesse waren zudem eingebettet in (religiöse) Rituale und ein Handlungskatalog half Familien-, Gemeindemitgliedern und Nachbarn den Tod zu verarbeiten. Mit dem Verlust vom christlichen Zusammenhalt und der Einbindung in Kirche bzw. Gemeinde nahm auch der Umgang mit den toten Körpern ab. Nicht mehr der Pfarrer wird im Falle eines Todes gerufen, sondern der Bestatter. Parallel dazu entwickelten sich medizinische Erkenntnisse immer weiter, die Lebenserwartung der Menschen wuchs und wächst, genauso wie der Wunsch nach ewiger Jugend bzw. jugendlichem Aussehen, um es stark verkürzt auszudrücken. Die Menschen sterben nun nicht mehr im häuslichen Umfeld, sondern vor allem in Institutionen, wie dem Krankenhaus oder Pflegeheim. 

Somit reduziert sich der Kontakt zu Verstorbenen, sodass sich viele Erwachsene zum ersten Mal in der Mitte ihres Lebens mit einer Leiche konfrontiert sehen. Je weniger Kontakt wir zu dem sich verändernden Körper haben, desto mehr wächst auch die Angst vor ihm. 

Zurückkommend zu unserem heutigen System sozialer Medien: Nahezu jeder Bereich des täglichen und gesellschaftlichen Lebens wird öffentlich geteilt – bis auf den Tod. Sinnbildlich steht diese Leerstelle also auch für unseren Umgang damit. Wir verdrängen den Tod der anderen und damit auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit. Den Tod als Teil des Lebens zu verstehen und einzugliedern in den Kreislauf des Lebens, wäre ein wichtiger Schritt, um dem Lebensende und den Sterbenden mit Würde zu begegnen, wie es beispielsweise die Hospizbewegung seit einigen Jahrzehnten tut. Dies ist eng verbunden mit der Wahrnehmung des toten Körpers. Zu sehen, zu fühlen und zu ‚begreifen’, hilft auch im Sinne eines Trauerprozesses zu verstehen, dass die Person nicht mehr lebendig ist. Die Fotografie schaltet sich in diesen Trauerprozess und zeugt nach der Bestattung von der dauerhaften Abwesenheit des Verstorbenen. 

„Nochmal leben vor dem Tod“

Einen passenden Einblick dazu liefert Walter Schels Fotobuchprojekt „Nochmal leben vor dem Tod. Wenn Menschen sterben“, das in Zusammenarbeit mit der Journalistin Beate Lakotta entstanden ist. Die dort gezeigten Doppelportraits aus den Jahren 2003 und 2004 (einmal in der Endphase des Lebens, einmal nach Eintritt des Todes aufgenommen) sind in verschiedenen Hospizen entstanden und wurden bzw. werden vielfach ausgestellt und rezipiert.

Walter Schels
Foto: Walter Schels, aus dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod“  (DVA).

Wirken diese Fotos auf uns befremdlich? Wollen wir wegsehen? Ängstigen Sie uns? Nein, das machen sie sicherlich nicht. Vielmehr zeigen sie uns, dass wir uns dem Tod stellen, den Toten gegenüber treten und uns verabschieden können. Den Hinterbliebenen dienen Sie als Objekt der Erinnerung und Medium der Trauerbewältigung. Im übertragenen Sinn bietet das Bild dem Verstorbenen zudem einen Ort, an dem sich der Angehörige des Todes vergewissern kann. 

Welche Vorbehalte können wir nun noch dem Totenportrait gegenüber haben?

Walter Schels, aus dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod“ (DVA)
Foto: Walter Schels, aus dem Buch „Noch mal leben vor dem Tod“  (DVA).

Saskia Ketz arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Dortmund, forscht und lehrt zur Sichtbarkeit des Todes in Kunst und Design. In ihrer Promotion beschäftigt sie sich – theoretisch wie praktisch – mit zeitgenössischen Abschiedsritualen im Kontext der Fotografie.

Sie sind für ein selbstbestimmtes Sterben in Würde. Gehört die selbstbestimmte Entscheidung für die aktive Sterbehilfe dazu?

Lotte Ingrisch: Ich bin im Vorstand einer Gesellschaft für „Sterben in Würde“. Davon bin ich überzeugt. Ich glaube an ein Sterberecht. Doch das hat leider unsere Regierung unter Sebastian Kurz in seiner Angst vor dem Tod abgeschafft. Außerdem herrscht er durch die Angst. Die Angst ist sein Kapital. Durch die Angst steuert er die Menschen und kann regieren. 

Aber ich bin für die aktive Sterbehilfe und ich kann mich erinnern, als dieses Thema vor Jahrzehnten im Parlament diskutiert wurde. Ich war auch eingeladen zum Mitreden, brachte zwei Seiten mit Zitaten von 20 berühmten Nobelpreisträgern des 20. Jahrhunderts und übergab es der Ethikkommission, die dieses Treffen in die Wege geleitet hat. Daraufhin bekam ich Parlamentverbot. 

Es wurde regiert. Es wurde bestimmt. Selbstbestimmte Entscheidungen gab es nicht. 

"Die Geister von Toten sind bei uns aus- und eingegangen. "

Lotte Ingrisch
Wieso möchten Sie die Sterbehilfe für Sich persönlich?

Ich betrachte den Körper immer wieder als Gefängnis. Ich möchte ausbrechen. Mit den Worten Shakespeares „O schmölze doch dies allzu feste Fleisch“ möchte ich es immer wieder zum Schmelzen bringen. 

Zu den Persönlichkeitsrechten gehört ein Sterberecht. Und wo es verweigert wird, ist es ein Verbrechen.

Woran liegt es, dass in Österreich oder Deutschland die Sterbehilfe immer noch nicht akzeptiert und durchgeführt wird?

Durch die Angst vor dem Tod herrschen die Mächtigen, herrscht die Politik. Wenn Leute keine Angst vor dem Sterben haben, ist die Macht der Politik im Schwinden begriffen.

Was passiert danach, also wenn Sie tot sind?

Ich bin so oft – nicht freiwillig und nicht absichtlich – sondern immer wieder jahrzehntelang erwacht und konnte meinen Körper nicht bewegen. Ich war wie gelähmt. Bis ich dann zufällig entdeckt habe, dass es nichts anderes bedeutet, als dass sich der Geist vom Körper trennt. Und wie ich das gewusst habe lies ich diese Trennung zu. 

Ich spürte wie ich aufstieg aus dem Körper und gleichzeitig war das ganze Zimmer von einem Dröhnen erfüllt. Ein Wasserfall rauschte, Posaunen tobten und vor lauter Schreck bin ich nochmal zurückgefallen in den Körper und hab gesagt „Du blödes Arschloch, jetzt hast Du dir alles vermasselt!“

Aber nein, Gott sei Dank nicht. Ich bin nochmal aufgestiegen und das war die pure Seligkeit. Ich bin jauchzend vor Glück in die Sterne hineingeflogen, was man offenbar auch kann, wenn man erlöst ist. Wenn das Quant erlöst ist von seinen Teilchen und als Welle herumschwirren kann. Wir sind dann reine Photonen und das ist Licht. 

Wir verwandeln uns, wenn wir sterben, in Licht. Und Licht kann gleichzeitig überall sein. Licht kann sich teilen und bleibt in jedem seiner Teile ganz. Also, unsere Zukunft sind eigentlich Photonen.

"Ich war eine Übersetzerin großer Geister."

Lotte Ingrisch
Sterben ist ein intimer Prozess. Niemand weiß, was wirklich was mit uns passiert. Was glauben Sie?  

Das Leben verwandelt Geist in Materie. Der Tod verwandelt Materie in Geist oder in Licht. Es ist ein ganz einfacher Prozess. 

Wie möchten Sie bestattet werden?

Das ist mir vollkommen wurscht. Man kann mich in den Müll werfen. Mein Körper ist mir nichts wert. 

Wie kommunizieren Sie mit den Geistern oder den Toten?   

Ich öffne mich und höre sie als innere Stimme. Lautlos, aber eindeutig. Ich habe ein Buch geschrieben „Das Leben beginnt mit dem Tod“. Da habe ich folgendes gemacht: Unter Zwang habe ich mich jeden Abend an die damals elektrische Schreibmaschine gesetzt, habe eine Flasche Wein auf ex getrunken, dazu ungefähr 1/8 Schnaps. Dann habe ich die doppelte Dosis Schlaftabletten eingenommen und dann war meine linke Gehirnhälfte, die Ratio, praktisch im Koma. Und in der Rechten, der Emotio sind eingeschränkt alle großen Geister frei gewesen. Ich habe nicht gewusst, was ich schreibe. Es ist völlig automatisch geschehen. Den Sinn des Schreibens habe ich erst hinterher verstanden. 

Zu meinem Mann habe ich immer gesagt, ich lebe von diesem Diktat. Denn es war von einer Höhe, die der Mensch normalerweise nie erreicht und ich selbst hätte sie auch nie erreicht. Ich war eine Übersetzerin großer Geister. Was anderes war ich nicht. 

Wie gelingt es Ihnen sich den Geistern und Toten zu öffnen?  

Diese Öffnung gelingt mir nur dadurch, dass ich keine Angst habe. Ich habe mich nie vor Gespenstern gefürchtet. Ich war so an Gespenster gewöhnt und es ist mir entsetzlich abgegangen, wenn sie nicht mehr gekommen sind. Jetzt, zum Beispiel kommen sie nicht mehr. Seit ungefähr 20 Jahren kommen keine Gespenster mehr zu mir. 

Ich habe einen guten Freund und Theologieprofessor gefragt, warum ich nichts mehr erlebe. Keine Toten reden mehr mit mir, keine Gespenster kommen. 

Daraufhin erwiderte er „Lotte, du bist alt geworden. Es kostet dich jede Menge Energie mit einem anderen System zu kommunizieren. Die Energie hast du nicht mehr.“ Ganz genau. Diese Energie habe ich nicht mehr.

"Man kann mit Gespenstern in Kontakt treten."

Lotte Ingrisch
Sie schrieben in einer Mail an mich, dass sie bald als Gespenst herumspuken. Wie lebt es sich so als Gespenst? 

Ich habe schon lebendigen Leibes gespukt. Ich bin immer wieder erschienen und zwar an Orten, wo ich garantiert nicht war. Fremde Leute aus allen möglichen Ländern haben mich angerufen, und haben gesagt „Frau Ingrisch, sie stehen mitten in meinem Zimmer“. Ich war selbstverständlich nicht wirklich da. 

In dem Buch „Die doppelte Lotte“ habe ich ein S.O.S. an die Wissenschaft geschrieben: wie kann ein Mensch gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten auftauchen? Darauf haben mir dreizehn berühmte Wissenschaftler geantwortet, dass sich die Wirklichkeit beständig aufspaltet“. Und auch Helmut Rauch hat gesagt: „Ein Mensch kann jederzeit an verschiedenen Stellen des Raums und an verschiedenen Stellen der Zeit auftauchen.“ 

(Bücher: „Der Quantengott“ und „Die Quantengöttin“)

Kann man später mit ihnen als Gespenst in Kontakt treten? Haben Sie Tipps und Ratschläge?  

Lotte lacht. Natürlich habe ich das lustig gemeint. Aber ich habe Gespenster auch schon gesehen. Mein Mann und ich haben 25 Jahre lang auf einer eklatanten Störzone in einem Waldviertel gelebt. Dieser Raum war nicht homogen und man erlebt die Wirklichkeit an jeder Stelle des nicht homogenen Raums anders. 

Wir schützen uns mit einem biologischen Immunsystem. Aber offenbar haben wir auch ein psychologisches Immunsystem. Und an gewissen Stellen der Störzone funktioniert weder das biologische noch das psychologische System. Ich war immer ein gesunder Mensch, habe auf diesen Störzonen aber ein Dutzend schwere Grippen im Jahr gekriegt. Und gleichzeitig haben mein Mann und ich jede Menge Geister gesehen. Die Geister von Toten sind bei uns aus- und eingegangen. 

Wir haben geglaubt, das sind Einbrecher und haben sogar eine Gaspistole gekauft, um uns zur Wehr zu setzen. Dann habe ich aber Angst bekommen, dass ich unsere sechs Katzen womöglich damit verletze und habe die Pistole wieder zurückgetragen. Aber es waren keine Einbrecher Es waren Tote, die bei uns ein und ausgegangen sind.

Fünf Jahre nach ihrem Suizid hat eine Tote bei uns angerufen. Drei Jahre lang. Ich habe neben dem Telefon immer schon die Schnapsflasche stehen gehabt, immer war es so nach Mitternacht, als es anfing zu läuten… da hab ich dann einen Schluck genommen, bevor ich abgehoben habe. Die Tote hat mir alles geschildert, was sie erlebt hat und mein Mann und ich haben Detektiv gespielt und alles aufgeschrieben.

Man kann mit Gespenstern in Kontakt treten. Aber ich glaube der Kontakt geht eher von den Toten, als von den Lebenden aus.


Lotte Ingrisch (*20. Juli 1930 in Wien) ist eine österreichische Schriftstellerin. Als „Liebhaberin von Geistern und der Quantenphysik“ oder als „Reiseführerin ins Jenseits“ hat sie sich über österreichische Grenzen durch einen Namen gemacht. Eines ihrer bekanntesten Werke ist die Mysterienoper Jesu Hochzeit, deren Uraufführung 1980 zu einem Theaterskandal wurde. Ihre letzten Buchveröffentlichungen zusammen mit dem Physiker Helmut Rauch sind „Der Quantengott“ und „Die Quantengöttin“.

Im Jahr 2002 wurde ihr das österreichische Ehrenkreuz 1. Klasse für Wissenschaft und Kunst für ihre Forschung zu Sterben und Tod verliehen.

Literatur von und über Lotte Ingrisch findet ihr hier.

Da sind drei junge Menschen auf einem Friedhof. Sie schlendern an mit Moos bedeckten Grabsteinen vorbei. Ein Spaziergang? Ein frisch ausgehobenes Grab, in dem eine Leiche liegt. Eine junge Frau aus der Gruppe schiebt den Verstorbenen leicht zur Seite und legt sich emotionslos direkt daneben. Unter dem Titel „Antizipation des eigenen Abschieds“ inszenierte Rosemarie Trockel eine filmische Situation, in denen sich Menschen spielerisch mit dem Tod konfrontieren und ihn gleichermaßen erproben. Unerwartet und doch bemerkenswert normal signalisiert die Künstlerin auf einer körperlichen Ebene genau das, wovor wir uns meist unser ganzes Leben lang scheuen: die Beschäftigung mit dem eigenen Tod; der eigenen Trauer.

Die Erfahrung von Verlust, Trauer und Wandel sind in einer Dreiecksbeziehung miteinander verbunden und voneinander abhängig. Die Ausstellung „Trauern. Von Verlust und Veränderung“ versucht dieses Potenzial in Worten und Bildern auszudrücken. Dabei werden rund 30 zeitgenössische künstlerische Positionen aus knapp 15 Ländern gezeigt. Jeder Künstler vermag mit seinem eigenen lebensbiografischen Schwerpunkt feine Konturen einer gesellschaftlich durchzogenen Trauer(n)kultur zu finden.

„I´m too sad to tell you“

Da findet man den niederländischen Künstler Bas Jan Ader in einer Selbstinszenierung vor der Kamera wieder, der sich gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz öffentlich mit einem Tabubruch der Männlichkeit positioniert: er weint und schluchzt, bis sein Körper bebend vor Schmerz wieder zur Ruhe kommt.

Ragnar Kjartansson gekleidet á la Frank Sinatra wird von einem mehrköpfigen Orchester begleitet und gibt in unterschiedlichen Stimmungslagen den Satz „Sorrow conquers happiness“ (Der Kummer besiegt das Glück) wieder. (Video hier anschauen)

Dabei geht es nicht nur um das, was wir als Gesellschaft unter trauern verstehen: der Verlust eines geliebten Menschen durch Trennung oder Tod ist sicherlich führend in der Begriffsdefinition, doch auch der Abschied von Idealen oder Visionen, von Heimat und Vertrautheit unterliegt dem Trauer(n)prozess. In verschiedenen Kapiteln wie Melancholie und TrauerTrauer und GeschlechtKollektive TrauerTrauer und ProtestFormen des AbschiedsDie Unfähigkeit zu trauern wird der Facettenreichtum individuell thematisiert.

Ist Trauer der Verlust gesellschaftlicher Ideale?

Als thematischer Schwerpunkt wird der Mord an John F. Kennedys Bruder Bob aufgegriffen, der am 6. Juni 1968 erschossen wurde. Eine Welle der Hoffnungslosigkeit durchzog damals die USA. Der Leichnam wurde per Zug von New York nach Washington D.C. gebracht. An den Bahngleisen verabschiedeten sich schätzungsweise eine Millionen Menschen. Paulo FuscoRein Jelle Terpstra und Philippe Parreno widmeten sich dem Mordfall an Bob Kennedy aus unterschiedlicher Perspektive. Da geht es um den Verlust und den Zerfall gesellschaftlicher Ideale eines politischen Systems, die Ungewissheit und Sorge was danach kommt. Trauer ist politisch bedeutsam und gibt Rückschlüsse zu gesellschaftlichen Strukturen. Ob die Bindung zu einem Menschen oder zu einem Ort, aber letztlich „enthüllt die Trauer, die wir durchleben, etwas von dem, wer wir sind.“

Bild von Fusco - Funeral Train
Fotograf: Paulo Fusco
Bild von Fusco - Funeral Train
Fotograf: Paulo Fusco

Nach BESSER SCHEITERN (2013) und WARTEN (2017) ist TRAUERN (2020) das dritte Thema einer Ausstellungsserie der Hamburger Kunsthalle, die sich mit Tabu- und Grenzthemen auseinandersetzt.

Die Ausstellung läuft noch bis zum 2. August 2020. Weitere Informationen gibt es auf der Seite der Hamburger Kunsthalle


Literaturempfehlungen der Hamburger Kunsthalle:

An welchen Tod glauben Sie?

Ich sehe das Leben und Tod als Frequenzfragen. Wenn wir sterben, verändern wir unsere Frequenz. Entweder nach oben, sie wird höher, oder eventuell geht sie auch herunter und wird dabei niedriger. Doch eine höhere Frequenz bedeutet ein höheres Bewusstsein. 

Sie schrieben einst über „das verlernte Sterben“? Könnten Sie hierzu noch etwas deutlicher werden?  

Naja, in unseren Genen sitzen zweitausend Jahre römisch-katholische Angst. Die Kirche herrscht durch Angst und diese Angst haben wir in unseren Genen. Deshalb fürchten wir uns vor unserem Sterben und versuchen es zu vermeiden, solange es geht. Das ist natürlich purer Unsinn. 

Ich fürchte mich nicht vor dem Sterben und freue mich total darauf, denn ich bin schon so oft außerhalb des Körpers gewesen. Es war ein Gefühl purer Seligkeit und voller Erleuchtung, aber kaum war ich in dem „deppernden Fleisch“ zurück, war die Erleuchtung futsch und die Seligkeit auch.

Welche Erkenntnisse und Erfahrungen haben sie aus ihrer Sterbe- und Jenseitsforschung gewonnen, für die unsere Gesellschaft noch lange nicht bereit ist?

Die Gesellschaft ist noch lange nicht bereit diese Art der Forschung anzunehmen. 2000 Jahre römisch-katholische Angst in unseren Genen verhindert, dass sich die Menschen mit dem Tod und Sterben auseinandersetzen. Dabei sind das hoch-interessante Prozesse. Und jede Person ist eigentlich ein Prozess. Und zwar die lebendige Person und die jenseitige Person auch. Das sind Prozesse, die bedeuten, dass man sich fortwährend verändert. Und wehe, wenn es kein Prozess ist, in dem man sich nicht verändert. Das ist die wahre Hölle!

Ich möchte zum Beispiel nicht in alle Ewigkeit – tot oder lebendig – die Lotte Ingrisch sein. Der Tod ist der große Verwandler. Er ist der Verzauberer der Verwandlung. 

"Der Tod verwandelt Materie in Geist."

Lotte Ingrisch
Quantenphysik und Sterbeforschung würde man normalerweise nicht als verbindende Größen betrachten. Helmut Rauch und Sie haben sich trotzdem darauf eingelassen. Inwieweit hat das Gebiet der Physik ihren eigenen Standpunkt der Todeswissenschaften verändert?

Helmut Rauch hat quantenphysikalisch bewiesen, das Lebende und Tote verschränkt sind. Das heißt, dass sie nicht voneinander getrennt, sondern sie sind und bleiben verschränkt. Sie bleiben gewissermaßen ein und dieselbe Gemeinschaft. Man kann sagen es ist eine höhere Person, die aus zwei Personen besteht. Deswegen hat sich mein eigener Standpunkt der Totenwissenschaft nicht verändert. Die Quantenphysik hat sie nur bestätigt.

Was ist der Tod in der Quantenphysik?  

Es gibt eine biologische Evolution und es gibt auch eine geistige Evolution. In der Quantenphysik steht wir sind alle unsterbliche Informationsquanten. Das heißt, wir sind Welle und Teilchen. Das Teilchen ist materiell und die Welle ist immateriell, ist Geist. Und ich habe immer gesagt, der Tod verwandelt Materie in Geist. So betrachte ich den Tod als Erlösung von der Materie, die Welle wird vom Teilchen erlöst und getrennt. Das ist für mich der Tod. 

"Schicksal ist eine Koproduktion"

Lotte Ingrisch
Früher haben Sie für Ihre Werke und Äußerungen Morddrohungen und Anfeindungen bekommen. Sie haben Ihrem Mann nie davon erzählt… Wie konnten Sie das seelisch verarbeiten?

Ich habe mich schon erschrocken und habe zeitweise am eigenen Verstand gezweifelt, weil die Majorität dagegen war. Bis ich darauf gekommen bin: Ich bin einfach meiner Zeit – und ich war es immer – so ungefähr 20 bis 30 Jahre, manchmal bis 50 Jahre voraus. Ich habe immer geglaubt, ich denke mir das alles aus, bis ich draufgekommen bin: ich bin eine Prophetin!

Ich schreibe von der Zukunft ab, und ich denke immer die Zukunft und empfinde immer die Zukunft. Das heißt ich war eigentlich nie in der Gegenwart Zuhause, und das hat mir unendlich viele Feinde geschaffen. 

"Das was wir Tod nennen, gibt es in Wirklichkeit gar nicht."

Lotte Ingrisch
Trotz all dieser Drohungen haben Sie weitergemacht. Wie fühlt es sich an, gegen den Strom des „Normalen“ zu schwimmen? Woher nehmen Sie ihre Kraft?

Jeden Vorläufer erkennt man an den Pfeilen im Rücken. Mein Rücken ist übersät mit Pfeilen. Aber nachdem ich weiß, dass ich ein Vorläufer bin, und dass ich das durchstehen muss, habe ich mir nicht allzu viel draus gemacht. Ich bin schon erschrocken vor so viel Feindseligkeit, aber ich konnte sie bewältigen.

Wenn Sie zurückblicken auf Ihr Leben, glauben Sie an die Macht des Schicksals?  

Also, ich bin mir nicht sicher, dass es ein Schicksal gibt. Zufall und Notwendigkeit haben es zwei Nobelpreisträger beschrieben. Das glaube ich auch. Unser Leben ist nicht exakt als Schicksal aufzufassen, sondern es kann immer Dieses oder Jenes passieren. Schicksal ist eine Koproduktion, von innen und außen, vom Menschen und seiner Umgebung.

Sie sagten einmal „der Motor der Konsumgesellschaft ist die Angst vor dem Tod“.  

In lauter Angst glauben die Menschen der liebe Gott ist die Wirtschaft und der Sinn des Lebens ist der Konsum. 

Ich erinnere mich zum Beispiel, als ich geflogen bin, haben die Leute haben alle aus purer Angst Essen bestellt – es konnte noch so grauslig sein – und sie haben es gegessen. Denn irgendwie hatten sie das Gefühl, wenn ich esse, kann ich nicht abstürzen. Wenn ich esse, kann ich nicht sterben.

Die Angst vor dem Tod bestimmt eigentlich bei den meisten Menschen ihr ganzes Leben. Bei mir hat das nicht gestimmt, weil ich mich nie vor dem Sterben gefürchtet habe, ich habe mich immer drauf gefreut. 

Aus meinem Wissen in der Jenseitsforschung habe ich versucht aufzuklären. Ich wollte den Menschen die Angst vor Sterben und Tod und ihre große Trauer nehmen, indem ich gesagt habe, das was wir Tod nennen, gibt es in Wirklichkeit gar nicht. 


Lotte Ingrisch (*20. Juli 1930 in Wien) ist eine österreichische Schriftstellerin. Als „Liebhaberin von Geistern und der Quantenphysik“ oder als „Reiseführerin ins Jenseits“ hat sie sich über österreichische Grenzen durch einen Namen gemacht. Eines ihrer bekanntesten Werke ist die Mysterienoper Jesu Hochzeit, deren Uraufführung 1980 zu einem Theaterskandal wurde. Ihre letzten Buch-veröffentlichungen zusammen mit dem Physiker Helmut Rauch sind „Der Quantengott“ und „Die Quantengöttin“.

Im Jahr 2002 wurde ihr das österreichische Ehrenkreuz 1. Klasse für Wissenschaft und Kunst für ihre Forschung zu Sterben und Tod verliehen.

Literatur von und über Lotte Ingrisch findet ihr hier.

Sind die Bühnenshows für Dich manchmal ein Zufluchtsort vor der realen Welt?

"Ich habe das Gefühl ich bin in einer Masse von Menschen und ich bin so allein. Weil mich kennt keine Sau, aber jeder meint mich zu kennen."

Jan Ammann
Helfen Dir bestimmte Rituale in deinem Alltag oder vor deinen Auftritten?  

"Freundschaften dauern die Länge eines Vertrags."

Jan Ammann
Nervt Dich das ständige Netzwerken und die ganzen „Vitamin B-Kontakte“ in der Künstlerwelt, oder ist das der Preis, denn Du für deine Künstlerkarriere eben zahlen musst?

Jan Ammann (*1975 in Billerbeck) ist Musicaldarsteller. In Produktionen wie Jekyll & HydeRebeccaTarzan oder Dr. Schiwago verkörperte er die Hauptrolle, als der „Bariton, der immer stirbt“. Dafür wurde er u.a. mit zahlreichen Preisen als bester Darsteller ausgezeichnet . Nicht zuletzt durch seine immer wiederkehrenden Auftritte als Graf von Krolock in Tanz der Vampire hat er sich nicht nur in der Musicalwelt einen Namen gemacht. Zurzeit ist er mit unterschiedlichen Formaten wie The Greatest Show oder A Musical Love Story auf Tour.

Ich stehe an der Kasse eines Supermarktes. Vor mir auf dem Einkaufsband liegen zehn Schokoladennikoläuse. Klassisch. Mit der Geschmacksrichtung Vollmilch. Heute ist der 6. Dezember und ich der Schokoladenüberbringer für die Menschen auf der Palliativstation. Zehn Nikoläuse für zehn Patienten. Meine Besuche auf der Palli werden zwar immer seltener, aber dafür nicht minder intensiver.

Bereits zu beiden Seiten des langen Ganges sind die Kommoden, Schränkchen und Sitzgelegenheiten mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Für mich ist es nach langer Zeit wie ein Heimkommen. Viel zu lange war ich nicht mehr hier. Ich habe es vermisst. Der Stationsleiter ist der erste, dem ich in die Arme laufe. Er drückt mich ganz fest, und als ich ihm meine Nikolaussammlung präsentiere, kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es ist alles noch so vertraut, nur die Menschen hinter den Türen sind Andere. 

Zimmer 208

Auf Liese* im Zimmer 208 stoße ich zuerst. Das Fenster ist gekippt und der Wind lässt die durchsichtigen Vorhänge leicht wehen. Mich fröstelt es und ich ziehe meine Jacke enger um den Körper. Liese liegt mit einem Kurzarmshirt im Bett. Der Aufdruck „Flower Po er“ springt mir in knalligen Farben entgegen. Darüber eine Ansammlung von dicken und dünnen Schläuchen, die sich ihren Weg in ihren kleinen Körper bahnen. Sie schaut mich einen Moment aufmerksam an und deutet mit ihrem nackten Arm auf mich, um ihn im nächsten Moment wieder sinken zu lassen. Gedanken werden zu Worte, die doch unausgesprochen bleiben.

Ihr Arm ist so dünn, dass sich Knochen und Muskeln deutlich abzeichnen. Es gibt nicht mehr viel, wovon ihr Körper zehren kann. Auf ihrem Nachttisch steht eine große Packung selbst gebackener Plätzchen. Unberührt. Der starke Husten und die Appetitlosigkeit setzen ihr zu. Der Hunger bleibt aus. Ein ständiges Brechgefühl beherrscht ihren Tag. „Nimm ein paar“, sagt sie zu und ihre Stimme klingt dabei ganz tief und rauchig. Sie lenkt mich mit ihrem Blick zu der Plätzchendose. „Ich kann die doch eh nicht alle alleine aufessen“. Wir einigen uns auf einen Tausch. Liese bekommt ihren kleinen Nikolaus und ich darf mir ein Plätzchen aussuchen. Damit ist sie einverstanden. Schweigend sitzen wir da. Liese betrachtet den Mann aus Schokolade eingehend. Dann schnellt ihr Blick nach oben: „Mein Neffe ist vor zwei Wochen an einem Gehirntumor gestorben. Jetzt sind seine Frau und seine drei kleinen Kinder alleine – ohne Mann und Vater. Seitdem können sie mich nicht mehr besuchen kommen. Ich verstehe das, aber es ist hart. Sie waren mir das Liebste und er mein liebster Neffe.“

Was passiert, wenn das Leben sich so vehement gegen sich selbst wehrt. Haben wir unsere persönliche Geschichte dann schon zu Ende erzählt? Sind wir hier bereits fertig auf der Welt? Oder gibt es womöglich etwas, was uns dringender braucht, als das Leben selbst? Niemand weiß das. Aber egal, an was wir glauben, wird es den Tod eines geliebten Menschen nie rechtfertigen können, weil diese Lücke, die dieser Mensch hinterlassen hat, immer bleiben wird. Diese Verletzung. Für immer. 

Nach einigen Minuten des Sprechens ist Liese erschöpft. Doch da gibt es noch etwas wichtiges, was sie mir erzählen möchte: unsere Wege haben sich bereits einmal gekreuzt. An Ostern diesen Jahres sind wir uns begegnet, als ich selbstgebastelte Anhänger aus Tonpapier verteilt habe. „Der kleine Hase hängt bei mir im Wohnzimmer“, sagt Liese und lächelt. „Den Nikolaus stelle ich dazu, wenn ich wieder daheim bin“. 

Ein paar Tage später verstirbt sie auf der Palliativstation.

"Jeder Einzelne, so ist es nun mal, berührt das Leben eines anderen und jeder andere das des Nächsten – die Welt ist voller Geschichten, und diese Geschichten sind eins."

Mitch Albom – Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen.

45 Ehejahre

Was einem fremd ist, man nicht kennt und gesellschaftlich verdrängt wird – dazu äußert man sich nur ungern. Ich kann manchmal verstehen,  wenn nur wenige mit meiner Arbeit auf der Palliativstation etwas anfangen können. Dabei ist es für mich viel mehr, als ein gesellschaftliches Tabu anzugehen. Mir geht es um die Menschen. Ich selbst nehme mich in dem Moment zurück, bin zwar da, aber nicht zum Eigennutz. Die Geschichten, die mir erzählt werden, sind einzigartig in ihrer Intensität, genauso wie Erlebnisse, die ich durch bloße Teilnahme ohne Worte erfahren habe.

Als ich vorsichtig durch den kleinen Spalt in das Zimmer spähe, sitzt die Ehefrau von Helmut* auf dem Bett, zwei Freunde daneben. Er redet wirres Zeug, sagt seine Frau, lacht und deckt ihn zu. Er muss sich ausruhen, denn der Besuch von so vielen Menschen ist anstrengend. Ich komme mit Schokolade, das letzte Mal war es eine Rose, erinnert er sich. In manchen Momenten ist er so klar. Genauso schnell driftet er aber auch wieder ab. Diese Momente beunruhigen ihn. Da geht sein Atem dann ganz flach. Auch die Freunde sitzen unbeholfen daneben und wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Nur seine Frau nimmt seine Hand. Ruhe kehrt ein bei Helmut. Er atmet wieder regelmäßig ein und aus. 

Wie soll man schöne Weihnachten wünschen, wenn jeder Tag der letzte sein könnte? Jeder Tag aber auch ein Geschenk. Ambivalent. Denn wie würde es sein? Das letzte Weihnachtsfest? Gibt es dann noch ein Wir? Oder ist es schon ein Allein – mit Dir in meiner Erinnerung?

Dann wird die Frau von Helmut Witwe sein. Nach 45 Ehejahren.

Vom Trauernden zum Sterbenden

Es war im Sommer 2017, als ich das erste Mal an einer Trauergruppe teilnehmen durfte. Der einzige Mann in der Runde war Herr B.*. Auch beim nächsten Mal, als ich kurzfristig die Leitung übernahm, war er da. Seine Frau war kürzlich verstorben. Der Verlust so tief, das Leben zu schmerzvoll, als ob die Luft nicht zum Atmen genügen würde.

Jetzt ist Herr B. selbst Sterbender. Palliative statt kurnative Versorgung. Austherapiert sozusagen. Als ich mich zu ihm ans Bett setze, wirkt er noch recht munter. Doch nach ein paar Minuten schweift er ab. Seine Stimme wird leise und brüchig und aus seinen vorher so strahlenden Augen spricht die Müdigkeit. Auf einmal ist es ganz still. Angenehm ruhig. Herr B. hat seine Augen geschlossen. Ich stelle den Nikolaus auf seinen Nachtisch. Der soll jetzt über ihn wachen und begleiten, denke ich mir. Leise ziehe ich die Tür hinter mir zu und lasse damit auch seine Geschichte bei ihm. Zurück auf dem Flur. Zurück in der Gegenwart. Zurück bei mir selbst. 

Herr B. war leidenschaftlicher Zeichner. Er hat sich verewigt, hat Erinnerungen zurückgelassen. Jeder Mensch lässt etwas zurück, wenn er geht und verlässt uns damit doch nicht ganz. So lange wir die Erinnerungen an diesen Menschen immer wieder aufleben lassen und mit Anderen teilen, erlischt sein Lebensgeist nicht.

Es fällt mir leichter, die Palliativstation zu verlassen. Zu gehen, obwohl andere Menschen dort bleiben müssen. Manche versterben hier, manche gehen nochmal nach Hause. Wir alle haben ein einzigartiges Leben geschenkt bekommen und doch handeln wir oft so leichtfertig, verletzen andere Menschen mit unseren Worten, Taten oder Blicken. All diesen Ungerechtigkeiten kann ich für ein paar Stunden entschwinden, wenn ich dem Leben wieder so nah sein kann, wie sonst nirgends. 

* Die Namen der Menschen wurden von der Autorin geändert.

Auf den ersten Blick würde man nicht meinen, dass sich hinter dem jungenhaft wirkenden Benedict Wells eine unbändige schriftstellerische Genialität verbirgt. Über einem schwarzen Rollkragenpulli trägt er ein dunkles Sakko. Auch bei seiner übrigen Klamottenwahl bevorzugt er mit einer grau melierten Stoffhose und schwarzen Schuhen die klassische Linie. Markante Wangenknochen verflechten sich mit seinen feinen Gesichtszügen. Da sind die haselnussbraunen, blitzenden Augen und die linke Augenbraue, die immer ein bisschen zu weit nach oben gezogen wirkt.

Während er behutsam gestikulierende Bewegungen macht, um seine Worte zu unterstreichen, stechen auf der dunklen Bühne seine feinen, schmalen Hände deutlich hervor. Er wirkt souverän und professionell, doch so nahbar und zugewandt wie ein guter Freund, den man eben auf einen Kaffee trifft. Sein Talent und Können als Autor ist so filigran und präzise, dass es unmöglich erscheint, von dem unablässigen Erfolg seiner Bücher abzuheben. Bodenständig mit einem feinen Gespür für Empathie, so möchte man Benedict Wells beschreiben.

"Die Einsamkeit in uns können wir nur gemeinsam überwinden."

Vom Ende der Einsamkeit

Drei Geschwister

„Vom Ende der Einsamkeit“ erzählt von der Hauptfigur Jules und seinen zwei älteren Geschwistern Marty und Liz, deren Eltern bei einem tragischen Autounfall tödlich verunglücken. Daraufhin werden die Geschwister in einem Heim untergebracht, in der sich das einst so verbundene Trio voneinander entfremdet. Eine, mit Träumereien durchzogene Kindheit weicht der kalten Realität. Aus dem abenteuerlustigen Jules wird ein schüchterner, zurückgezogener Junge. Marty entwickelt sich zu einem sich selbst ausgrenzendem Nerd und Liz flüchtet sich in Drogen und Alkohol. 

Erst durch die tiefe Verbundenheit zu Alva, einer Mitschülerin, gewinnt das Leben von Jules wieder an Wertigkeit, welches durch ein erschütterndes Ereignis und dem vorerst endgültigen Ende ihrer Freundschaft ins Wanken gerät. Beide merken zu spät, wieviel mehr sie dem anderen bedeutet haben und doch vergehen elf Jahre bis zu einem Wiedersehen.

"Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit"

Vom Ende der Einsamkeit

Mit 24 Jahren beginnt Benedict Wells seinen wohl feinfühligsten Roman. Sieben Jahre schreibt er an dem Buch und kürzt den Bestseller von anfangs 800 Seiten auf 350 Seiten. Auch Benedict Wells kam, wie die Hauptfigur Jules, mit sechs Jahren in ein Heim. „Es klingt in Wahrheit schlimmer. War aber besser“, sagt er über seine Internatszeit. Nach dem Abitur entschied er sich gegen ein Studium und ging nach Berlin, um zu schreiben. „Vom Ende der Einsamkeit“ ist sein vierter, im Diogenes Verlag erschienener, Roman. 

Die Gefühle von Einsamkeit und Leere, die in dem Roman so deutlich hervorstechen, habe er genauso erlebt und in diese Geschichte einfließen lassen. Ein Lebenskunstwerk von 35 Jahren, dass ganz bewusst Schnitte von fünf Jahren lässt, um dem Leser den nötigen Freiraum und die Fantasie zu gewähren. Dabei soll jenes Gefühl vermittelt werden, dass nicht erzählt werden kann, sondern in der bloßen Verbundenheit zwischen Leser und Buch erst erfahrbar wird. 

"Inwieweit kann Dich deine eigene Vergangenheit einholen?"

Benedict Wells

Feels like home.

Mit Singer und Songwriter Jakob Brass findet Benedict Wells in seiner Lesung ein harmonisches Gegenwicht zu seinen Textstücken. Im Unterschied zu Benedict Wells trägt er ein einfaches blaues Shirt, Jeans und Sneakers. Die kinnlangen Haare und der rötliche drei Tage Bart gehen in einer Linie ineinander über. Er wirkt verträumt, wenn er seinem Künstlerkollegen beim Lesen zuhört. Dann stützt er sich auf seine Gitarre und vergisst alles um sich herum.

Es war vor zehn Jahren auf der Benefizveranstaltung „feels like home“, wo sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Für den guten Zweck. Aus gemeinsamer Arbeit entwickelte sich eine tiefe Freundschaft. Diese Verbundenheit spürt man auf der Bühne. Und obwohl sie, dass in Dunkelheit getauchte Publikum, nur erahnen können, berühren sie mit der Verschmelzung von Literatur und Musik jeden Einzelnen im ausverkauften Theater. 

"Dad, ich hab dich lieb."

Benedict Wells

Worte des Abschieds zum Publikum und seinem Vater, bevor der tosende Applaus einsetzt. Als Benedict Wells ein erneutes Mal von den Gästen auf die Bühne gefordert wird, geht er an den Rand der Bühne und wirft seinem Vater einen zärtlichen Handkuss zu, um danach endgültig hinter dem Vorhang zu entschwinden.

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